Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Annette Schleinzer: Die Liebe ist unsere einzige Aufgabe

Das Lebenszeugnis der Madeleine Delbrêl

Poetin, Sozialarbeiterin, Missionarin und Prophetin – diese Attribute versuchen das Leben und Schaffen Madeleine Delbrêls zu umschreiben. Anlässlich ihres 50. Todestags am 13.10.2014 wurde das Gedenken an sie wieder stärker. Immer mehr Menschen beschäftigen sich mit dieser ungewöhnlichen Frau, die als Pionierin einer missionarischen Pastoral bzw. eines profilierten Laienapostolates gelten kann, wie es erst im 2. Vatikanischen Konzil anerkannt und rezipiert wurde. Auch das Denken und Handeln Papst Franziskus‘ trägt zu einer erneuten Beschäftigung mit ihr bei, da er durchaus ähnliche Handlungsmotive und den missionarischen Einsatz für die Armen fordert. Madeleine Delbrêl hat sich ganz der Sorge um die Armen, in ihrem Fall der Arbeiterschaft in Ivry, verschrieben.

Zu ihrem Gedenken erschienen 2014 zwei Publikationen in Neuauflage. Mehr biographisch angelegt ist das Buch von Katja Boehme; eine etwas ausführlichere Auseinandersetzung mit zeitgeschichtlichen, kirchen- und sozialpolitischen und theologischen Hintergründen enthält das Werk von Annette Schleinzer. Am aussagekräftigsten und lebendigsten wirken ihr Lebenszeugnis und ihre Berufung durch ihre eigenen Texte, wie das folgende Gebet eindrucksvoll bestätigt: „Gib, dass wir unser Dasein leben / Nicht wie ein Schachspiel, bei dem alles berechnet ist, / Nicht, wie ein Match, bei dem alles schwierig ist, / Nicht wie ein Zahlenproblem, bei dem man sich den Kopf zerbricht, / Sondern wie ein endloses Fest, bei dem man dir immer wieder begegnet, / Wie einen Ball, wie ein Tanz / In den Armen deiner Gnade, / Während Musik der Liebe uns allseits umfasst. / Herr, komm und lade uns ein.“ (Zitiert bei: Boehme) Dies ist das Gebet einer Frau, die vor ihrer „Bekehrung“, wie sie selbst schreibt, Atheistin war. 

Madeleine Delbrêl wurde 1904 in Frankreich geboren. Berührung mit dem Glauben erfährt sie nicht in ihrer Ursprungsfamilie, sondern durch ihre Großmutter und die Vorbereitung auf erste heilige Kommunion. Mit 15 allerdings bezeichnet sie sich selbst als Atheistin. Die Familie Delbrêl wohnte zu dieser Zeit in Paris. Sie nahm zunächst ein Studium der Künste auf, interessierte sich auch für Philosophie und Literatur. Ihr Denken war beeinflusst vom Skeptizismus Montaignes und dem Nihilismus Nietzsches sowie durch eine starke Auseinandersetzung mit dem Werk Blaise Pascals. So studierte sie sowohl an der Kunsthochschule als auch Philosophie und Geschichte an der Sorbonne.

Die entscheidende Begegnung, die ihre Überzeugung in Frage stellen und ändern sollte, ist die mit Jean Maydieu im Alter von 19 Jahren. Durch ihn entdeckte sie eine neue Dimension des Menschseins: die Wahrheit einer personalen Begegnung, die keiner Erklärungen und Rechtfertigung bedarf, die das unbedingte Ja zum Leben will. Diese Wahrheit prägt von nun an ihr ganzes Leben. Jean Maydieu setzt die Liebesbeziehung zu Madeleine nicht fort, sondern folgt seiner Berufung und tritt in den Dominikanerorden ein. Zurück bleibt eine zutiefst verzweifelte Madeleine. Zunächst überwindet sie ihren Schmerz durch Schreiben. In den Jahren 1922-1925 entsteht ein ganzer Gedichtband mit dem Titel „La Route“. Zunächst sind ihre Gedichte geprägt von einer Lebensverneinung, doch durch ihre Dichtung erfährt sie eine Annäherung an Gott. Sie konnte Gott nicht mehr als absurd denken und behandeln. Daher beschloss sie zu beten. Madeleine erfährt und begegnet Gott, sie beschreibt diese Erfahrung als Konversion. Gott, der für sie die Liebe und der Urgrund alles Seins, die eigentliche Wirklichkeit ist, wird für sie zum Allerwichtigsten. 

Madeleine engagiert sich von nun an in ihrer Gemeinde, der Pariser Pfarrei St. Dominique, und wird Verantwortliche der Pfadfinderinnenarbeit im Pariser Süden. Abbé Lorenzo, der Pfarrer dieser Gemeinde, unterstützt sie dabei und prägt als geistlicher Begleiter ihren weiteren Glaubensweg. In dieser Zeit, die bereits von sozialem Engagement geprägt ist durch die Gründung der Gruppe „La Charité“, entsteht der Wunsch mehrerer junger Frauen, ein gemeinsames geistliches Leben zu führen. So bricht Madeleine, nach einer intensiven geistlichen Vorbereitungsphase, 1933 mit zwei Gefährtinnen nach Ivry, einer kommunistisch-atheistisch geprägten Arbeiterstadt südlich von Paris auf, um dort eine Sozialstation aufzubauen. Sie wirkte dort bis zu ihrem Tod 1964. 

Hier lernt sie das Unrecht und die Not der Arbeiterschaft kennen, engagiert sich politisch in Auseinandersetzung mit der kommunistischen Partei und versucht als Vorsteherin ihrer wachsenden Gemeinschaft das Spezifikum ihrer Berufung und die Berufung ihrer Gemeinschaft zu leben. Sie entschieden sich für die evangelischen Räte und positionierten sich immer wieder als Laien, nicht als Ordensfrauen.

Madeleine stand in engem Kontakt zu den Priestern der „Mission de France“ und der „Arbeiterpriester“, auf die sie und ihre Gefährtinnen sehr inspirativ wirkten. Madeleine wollte durch ihr Leben Zeugnis geben vom Evangelium in einer atheistischen Welt, in der Spannung zwischen In-der-Welt-Sein und zugleich Nicht-von-der-Welt-Sein. Sie war schon lange vor dem 2. Vatikanischen Konzil der festen Überzeugung, dass auch Laien zur Heiligkeit berufen sind, dass sie eine positive Bestimmung haben „als Glieder des Leibes Christ, die – aufgrund von Taufe und Firmung – dazu berufen und gesandt sind, durch ihr Leben Zeugnis von Jesus Christus abzulegen“ (Schleinzer).

Das Anliegen der Arbeiterpriester war zutiefst das Ihre. Das Verbot 1953 traf sie sehr persönlich. Sie selbst reiste zweimal nach Rom, um für die Arbeiterpriester zu beten und selbst Gespräche mit dem zuständigen Staatssekretär zu führen, was leider nicht zum Erfolg gereichte. 1957 erschien ihr Werk „Ville marxiste, terre de mission“, in dem sie die Grundlagen ihres missionarischen Wirkens im atheistischen Milieu darlegte. Sie geht immer mehr dazu über, nicht von Mission, sondern von Apostolat zu sprechen. „Dieses Apostolat muss unaufhörlich von Gott ausgehen und immer mehr Menschen erreichen; von immer mehr Menschen herkommend – und immer mehr von ihnen selbst – muss es zu Gott zurückkommen.“ (Schleinzer) Madeleine wird abermals zur Pionierin, denn sie ist davon überzeugt: „um Christus in einem atheistischen Milieu zu verkünden, genügt die christliche Präsenz gerade nicht. Es braucht darüber hinaus das prophetische Wort, das prophetische Zeichen...“ (Schleinzer) Dieses Zeichen war Madeleine Delbrêl, die plötzlich am 13. Oktober 1964 an einer Hirnblutung verstarb. 

Beide Bücher sind äußerst lesenswert und geben einen sehr guten Einblick in die Berufung und das Schaffen Madeleine Delbrêls. Für theologisch Interessierte bietet Annette Schleinzer in ihrem Werk eine vertiefte Reflexion. Sie kontextualisiert das Schaffen Delbrêls, beschreibt die kirchenpolitischen Zusammenhänge und Hintergründe, v.a. die „Mission de France“ und das Experiment der Arbeiterpriester, und leistet die Rezeption ihres Denkens und Handelns durch das 2. Vatikanische Konzil. Madeleine Delbrêl kann nicht nur als Vorreiterin des 2. Vatikanischen Konzils gesehen werden, sondern ist aktueller denn je. Das Denken und Wirken Papst Franziskus‘ trägt ähnliche Charakterzüge. So ist es nicht verwunderlich, das Madeleine Delbrêl gerade jetzt wieder an Aktualität gewinnt und neu entdeckt wird.

Ostfildern: Patmos Verlag. 2014
312 Seiten
19,99 €
ISBN 978-3-8436-0544-1
 

Zurück