Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Armin Nassehi / Peter Felixberger (Hg.): Kursbuch 196: Religion, zum Teufel!

Der Titel „Religion, zum Teufel!“ legt eine falsche Spur, insinuiert er doch eine scharfe Abrechnung mit (dem Erscheinungsbild der) Religion. Den Teufel bekommt der Leser dennoch präsentiert – und zwar von dem Comic-Zeichner Ralph Niese, der in der Mitte des vorliegenden Kursbuches mit seinen frechen, grellen Illustrationen die Karriere Luzifers vom Paradies bis in unsere diabolischen Tage nachzeichnet (93-112).

Allgemein formuliert geht es in den verschiedenen Beiträgen um eine Revision überholter Urteile über und einen neuen Blick auf aktuelle Probleme von Religion, wobei in aller Regel das Christentum und der Islam gemeint sind. Deshalb ist es kaum verwunderlich, dass den kritischsten Beitrag der Theologe Gregor Maria Hoff beigesteuert hat, der unter dem kryptischen Titel „Kirche zu, Problem tot!“ (26-41) die Missbrauchsproblematik in die katholischen Kirche reflektiert: Es handele sich um das systemische Problem einer sich abschottenden Institution, die das Amt des Geistlichen, der ja in der Nachfolge des Gottessohnes tritt, sakralisiert; Dogmatik und Kirchenrecht regeln intern, was zu regeln ist, korrigierende Außenperspektive werden nicht zugelassen. Der massive öffentliche Druck und die gegenwärtigen innerkirchlichen Diskussionen lassen hoffen, dass – dem Teufel sei Dank – eine bislang totale Institution wirkliche Korrekturen auf den Weg bringt.

Karl Marx hielt die Religion für eine „Privatschrulle“ – eine Überzeugung, die, so der Soziologe Armin Nassehi (42-58), der Eigenart religiöser Kommunikation nicht gerecht wird. Im Anschluss an Niklas Luhmanns Sozialtheorie erläutert er am Beispiel der Krankenhausseelsorge, dass hier auch ohne explizite religiöse Botschaft eine „religiöse Erfahrung“ induziert werden kann (48). Charakteristisch für diese spezifische Kommunikation ist zum einen die Ausnahmesituation, bei der – wie bei anderen Übergangssituationen des Lebens ebenfalls – das Ganze des eigenen Lebens in den Blick kommt, und zum anderen die für das gesellschaftliche Teilsystem Religion typische Funktion einer Transformation der Unbestimmtheit von Welt in eine Bestimmtheit mit Verweis auf eine transzendente Größe (53, 57).

Ein Grund für die religiöse Aufladung (welt)politischer Großkonflikte liegt nach Nassehis Auffassung in der strukturellen Ähnlichkeit der gesellschaftlichen Teilsysteme Religion und Politik. Die Funktion des politischen Systems besteht darin, Chaos und Gewalt durch bindende Entscheidungen zu unterbinden und auf diese Weise eine kollektive Ganzheit – wie Nationalstaat, Umma, christliches Abendland, ect. – herzustellen. Das Konfliktpotenzial – sei sie wie im Fall der Religion individuell, sei sie wie im Fall der Politik kollektiv – liegt darin, dass es für die imaginierte Ganzheit „weder ein realistisches Korrelat gibt noch eine empirische Fallibilität, dafür aber umso mehr soziale Energie zur Erzeugung einer Ganzheitsperspektive“ (56).

Auf diesem Hintergrund erklärt Nassehi die Islamisierung der dritten Generation von Migranten in Europa damit, dass sie die Unbestimmtheit ihrer gesellschaftlichen Situation durch eine demonstrative Zugehörigkeit zum Islam in eine Bestimmtheit überführen können. Konkreter wird der Soziologe und Politikwissenschaftler Aladin El-Mafaalani, der verschiedene Spannungsfelder bei muslimischen Jugendlichen beschreibt, die die Wahrscheinlichkeit extremer Reaktionen erhöhen (145-153). So skizziert er den Konflikt zwischen der angeblichen Überlegenheit der Muslime und ihrer faktischen Schwäche, die einerseits durch eine Abwendung, andererseits durch eine Überidentifizierung und Radikalisierung mit dem Islam überwunden werden kann – wobei sich letzteres exakt mit Nassehis Argumentation deckt.

Aus dem weltanschaulich neutralen Staat mit Religionsfreiheit ergibt sich, so Karsten Fischer, Professor für politische Theorie, eine Win-win-Situation für Demokratie und Religion (59-73). Die Religionsgemeinschaften akzeptieren demokratische Mehrheitsentscheidungen selbst dann, wenn sie den eigenen Wahrheitsansprüchen widersprechen, und können umgekehrt mit staatlicher Förderung wie etwa dem konfessionellen Religionsunterricht rechnen. Auf dieser religionspolitischen Folie kritisiert Fischer ebenso die in Großbritannien aus Integrationsgründen geschaffenen Scharia-Gerichte, die eine religiös-rechtliche Parallelordnung zur Folge haben, wie die Anbringung von Kreuzen in bayerischen Amtsstuben, die eine kulturelle Identität ausdrücken sollen. Dass Religion Privatsache ist, heißt – anders als in Frankreich – nicht, ihr „eine öffentliche Rolle und Funktion streitig machen zu wollen“ (70). Fischer hält ein „radikal laizistisches Verständnis mit dem politischen Liberalismus … [für] unvereinbar“ (70). Eine ähnlich kritische Einschätzung des französischen Laizismus, der vergeblich versucht, die sichtbare religiöse Präsenz muslimischer Migranten aus dem öffentlichen Raum zu verbannen, teilen in ihren Beiträgen Monika Wohlrab-Sahr (155) und Hinrich Claussen (118f).

Zwei Autoren äußern sich zu dem Globalthema Migration und Asyl. Jens Spahn bezeichnet seinen in der katholischen Kirche verwurzelten Glauben sowie die Lehren der Aufklärung als Richtlinien seines politischen Handelns und bekennt sich zum säkularen Staat samt Religionsfreiheit. In seinem Gastbeitrag (74-82) kritisiert der derzeitige Gesundheitsminister einen unduldsamen und gesinnungsethischen Moralismus in der Asyl-Problematik, weil dieser eine offene Debatte verhindert, die Folgen politischen Handelns ausklammert und Kompromisse verunmöglicht. Ähnlich argumentiert der evangelische Theologe Johann Hinrich Claussen, der „Sechs Mosaiksteine einer Religion der Migration“ (113-127) zusammenträgt. Dass das Thema Migration eine bedeutsame religiöse Dimension hat, zeigt sich u.a. darin, dass christliche Trump-Anhänger in ihrer Einstellung gegenüber Fremden offener sind als säkulare. Das tätige Engagement für Migranten mit Wort und Tat schärft das Profil des Protestantismus, darf aber nicht in Moralismus verfallen, sondern muss eine Balance von Nächstenliebe und Nüchternheit bzw. von Barmherzigkeit und Besonnenheit halten (126).

Die Aufsätze von Johanna Pink sowie von Monika Wohlrab-Sahr und Reinhard Schulze leisten Aufklärung im besten Sinne, weil sie gegen verbreitete Vorstellungen über den Islam dessen geschichtliche Vielschichtigkeit ins Spiel bringen. Üblich ist die Behauptung, aus „dem“ Koran ließe sich ableiten, was „der“ Islam ist. Dagegen setzt die Islamwissenschaftlerin Johanna Pink zunächst die „störrische Mehrdeutigkeit der Schrift“ (131): Viele Stellen des Korans sind unbestimmt und mehrdeutig, was unterschiedliche Interpretationen erlaubt; andere Stellen dürfen nach Auffassung der Ausleger nicht wortwörtlich verstanden werden. Hinzu kommt, dass beispielsweise die koranische Bestimmung, dass im Falle befristeter Schulden ein Mann durch zwei weibliche Zeugen zu ersetzen ist (Sure 2,282), mit angeblich mangelnden intellektuellen Fähigkeiten von Frauen in Verbindung gebracht wird; aber diese Interpretation ergibt sich nicht aus dem Koran, sondern folgt islamischem Recht sowie gesellschaftlichen Annahmen!

Für das Verständnis des Islams sind weiterhin die Hadith-Sammlungen als Quelle von Recht und Glauben, die unterschiedlichen Rechtsschulen sowie die Rolle der mystischen Orden unerlässlich. Am Beispiel Saudi-Arabien wird offensichtlich, dass eine bestimmte Korandeutung mit politischer Macht durchgesetzt wurde. Wo hingegen pluralistische Debatten möglich sind, werden Alternativen zum traditionellen bzw. islamistischen Schriftverständnis entwickelt – bis zu einem „Queer Islam“, der, wie am obigen Beispiel gezeigt, gesellschaftliche Überzeugungen mit dem Koran zu vereinbaren versucht.

Üblich ist zudem die Überzeugung, dass in der islamischen Welt Staat und Religion eine unauflösliche Einheit bilden und die Differenz von profan und säkular mit dem Islam unvereinbar sei; neueren Datums ist die postkoloniale Kritik, diese Unterscheidung bilde eine wissenschaftliche Gestalt des westlichen Kolonialismus. Dem widerspricht die Kultursoziologin Wohlrab-Sahr (154-170): Mit „vorsichtiger Heuristik“ und „religionshistorischem Blick“ stellt sie indigene, säkular und profan entsprechende Unterscheidungen heraus wie die Ulama als Spezialisten der Textauslegung, die Funktionsunterscheidung zwischen Kalifat und Sultanat oder „das ewige Tauziehen zwischen religiöser Macht und der Macht von Laien“ (163f).

Auf der gleichen Linie argumentiert der Islamwissenschaftler Schulze, dessen bereits vor 30 Jahren im Kursbuch erschienener Aufsatz hier erneut abgedruckt ist (171-189). Er sieht Ansätze einer „Selbstsäkularisierung“ zum einen in den mystischen Traditionen, die eine auf Gott gerichtete Religiosität vor „der rein rechtlich verfassten islamischen Gemeinde (Umma)“ zu bewahren versuchen (179). Zum anderen beobachtet er eine vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart reichende „Traditionslinie von der Muhammadisierung des Islam[s]“ (187), die – wie in Saudi-Arabien zu beobachten – mit einer klaren Trennung zwischen öffentlicher und privater Sphäre einhergeht.

Nicht unerwähnt bleiben darf die ganz wunderbare, humorvolle Weihnachtserzählung der Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff: „Drei Tannen“ (13-25) fliehen vor ihrem Schicksal als Weihnachtsbäume und schlagen Wurzeln um einen Bildstock herum; als am Weihnachtstag der Gekreuzigte aus dem Marterl steigt, geben die Tannen ihm Schutz, weil sie in ihm ein schutzbedürftiges Geschöpf, wie sie es selbst sind, erkennen.

So viele Perspektiven, so viele Einsichten – zum Teufel, mehr kann man von einer Kulturzeitschrift wie dem Kursbuch kaum erwarten.

Hamburg: Kursbuch Kulturstiftung. 2018
191 Seiten m. farb. Abb.
19,00 €
ISBN 978-3-96196-032-3

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