Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Bernard McGinn: Die Mystik im Abendland

Schon der 6. Band in dem Standardwerk des nordamerikanischen Ex-Dominikaners – und der in drei Teilbänden. Der erste, schon erschienen, widmet sich der evangelischen Reformation; der dritte, schon angekündigt, wird sich den myst(agog)ischen Aufbrüchen katholischer Prägung damals in Frankreich, Deutschland und Italien widmen. In diesem unter dem Titel „Verzweigung“ – steht das goldene Jahrhunderts Spaniens im Mittelpunkt: die Jahre ab 1500 mit dem Aufbruch durch die Entdeckung Lateinamerikas bis 1650. Wie bisher schon: immer gelehrt und kenntnisreich, Horizonte öffnend und glänzend erzählt – eine Schatztruhe und Fundgrube wie die bisherigen Bände.

Bezeichnend insgesamt und neu ist in dieser Zeit das Interesse am Subjektwerden. Erasmus spielt die Rolle eines Initiators. Reflexive Selbstbetrachtung wird attraktiv, das Achten auf Innerlichkeit und Affektivität. Entsprechend kommt das innere Gebet förmlich in Mode, die unmittelbare Begegnung, ja Einheit mit Gott. Entsprechend groß ist der Verdacht der Großkirche, die natürlich um den Einfluss ihrer Vermittlung durch Wort, Sakrament, Gemeinschaft und (Lehr-)Amt bangt – ein aktuelles Thema bis heute. Erläutert wird all dies konzentriert an einzelnen Gestalten.

Im Mittelpunkt stehen drei große Porträts. Zuerst Ignatius von Loyola (1491-1556) mit seiner Biografie und daraus erwachsend mit seinem genialen Exerzitienbuch – einem der spirituellen Bestseller und Ratgeber bis heute, weniger zum Lesen gedacht als zum Üben mit Anleitung und Begleitung. Wie entschiedener Christ werden, wie erwachsen werden im Glauben und befreit durch die Begegnung mit Gott? In diesem „Handbuch“ geistlichen Lebens und natürlich in seinen anderen Schriften den mystischen Autor entdecken – das steht im Zentrum der Darstellung: das Original Ignatius mit seinen erstaunlichen Visionen, seiner unglaublichen Gottunmittelbarkeit und seiner tränenreichen Erschütterbarkeit, mit seiner klaren Unterscheidungskraft und kirchlichen Hellsicht. Erfreulich nüchtern spricht der Gründer der Jesuiten ja kaum von Gotteseinigung, von religiösem Liebesgeflüster ist bei ihm kaum die Rede, im Zentrum stehen die Entdeckung der eigenen Berufung und deren entschiedene Wahl, der apostolische Dienst und das Dasein für andere, also die gelebte Einheit von Kontemplation und Aktion zur höheren Ehre Gottes – und das immer im Geheimnis und Geschenk wirklicher Freiheit.

Vieles davon gilt auch für die beiden etwas jüngeren Pioniere der Gottes- und Selbstentdeckung: Teresa von Avila (1515-1582) und Johannes vom Kreuz (1542-1591). Jeweils eine Monografie für sich, erschließt McGinn die zentralen Werke der beiden: Biografisch und mystisch engstens verbunden, sind sie doch höchst unterschiedliche Glaubenszeugen und geistliche Schriftsteller. Teresa, „die erste Frau, die mit Rücksicht auf die Inquisition schrieb“ bzw. schreiben musste (155), äußert sich unmittelbar voll spontaner Geistesgegenwart mit (typisch?) weiblicher Phantasie inmitten der Männerwelt. Johannes, der studierte Kleriker, ist einer der größten spanischen Dichter bis heute und zudem ein radikaler „Systematiker“ des Mystischen, der aufs Ganze geht („absolutistisch“, wie McGinn (325), sollte man ihn nicht nennen). Beide zeichnet eine große Introspektive, fast psychoanalytische Sensibilität aus, eine höchst feinfühlige religionspädagogische, nein mystagogische Begleitungskunst aus. Beide sind, wie Ignatius, in ihrer Mystagogie erfreulich geerdet und erfrischend realistisch, aller spirituellen Erfahrungssucht abhold und stets die Gefahr narzisstischer Eigensucht im Blick. Das hängt wesentlich mit ihrer Christusinnigkeit zusammen – und die schließt wesentlich das Bestehen und Verwandeln der faktischen Welt ein, also das Kreuz. Aber gerade Johannes vom Kreuz passt keineswegs in das Klischee des „finsteren“ Asketen. Man lese nur seinen Sonnengesang namens Cantico espiritual. Schließlich kann der alte Wahlspruch „in actione contemplativus“ für alle drei Reformatoren gelten: Einswerden mit Gott durch das Leben und Wirken in der Welt – und entsprechend nicht nur Reformation, sondern Transformation von Welt und Menschen in und durch die Gegenwart Gottes und seines Geistes in allen Dingen.

Vergleichbar den evangelischen Reformatoren gibt die spanische Mystik dieser Zeit der Freiheit eines Christenmenschen Raum. Im Geheimnis unmittelbarer Gottbegegnung wagt der Mensch die Expedition in das innere Ausland und sieht sich zum Bruder, zur Schwester Christi befreit, zu wahrem gottmenschlichen Leben also. Dabei wird, typisch neuzeitlich schon, auf den Weg und auf die Methode christusgemäßer Menschwerdung besonderen Wert gelegt. Höchst bedeutsam wird „die Autorität der inneren Erfahrung“ (483f) – und damit die Rolle kirchlicher Heilsvermittlung (bis heute das interkonfessionell entscheidende Trennungsthema). Für die drei katholischen Glaubenslehrer ist Mystik ohne Kirche undenkbar, aber Kirche ohne Mystik armselig. Ein Fazit der faszinierenden Darstellung McGinns, ein Muss für alle Interessierten, lautet (484f): „Das vielleicht größte Paradox der spanischen Mystik dürfte die Tatsache gewesen sein, dass in der Geschichte der christlichen Mystik ausgerechnet im historischen Kontext einer so starken Verdächtigung und sogar Unterdrückung von Behauptungen, Gott innerlich erfahren zu haben, einer der umfangreichsten, eindrucksvollsten und einflussreichsten Bestände von Schriften zur Mystik entstanden ist.“

Band 6/2: Verzweigung. Die Mystik im Goldenen Zeitalter Spaniens (1500-1650)
Aus dem Englischen von Bernhardin Schellenberger
Freiburg: Herder Verlag. 2018
512 Seiten
80,00 €
ISBN 978-3-451-38042-6

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