Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Birgit Gegier Steiner: Artgerechte Haltung

Birgit Gegier Steiner sorgt sich um die Jungen. Als Leiterin einer Grundschule und Mutter hat sie immer wieder erlebt, wie wenig die Bedürfnisse von Jungs berücksichtigt werden: „Jungen haben einen angeborenen Drang, ihre Welt mit allen Sinnen kennenzulernen und zu erobern, sich auszuprobieren, Entdeckungen zu machen, ein Aha-Erlebnis zu erfahren und Abenteuer zu bestehen. Das macht zufrieden. Um sich gut zu entwickeln, benötigen sie Freiräume und ‚freie Zeiten’ – auch abseits der Einflüsse und Kontrolle von Eltern und Pädagogen.“ Darin seien sie anders als Mädchen, zumindest anders als die übliche Pädagogik des Stillsitzens und Zuhörens. Deshalb fordert sie für die „wilden Kerle“ – wie für die Schule überhaupt – als neues Leitbild die Berücksichtigung des „fußballdidaktischen Erziehungsprinzips“. Denn Jungs seien bewegungsorientierte Teamplayer mit sehr viel Testosteron, sie benötigten Freiheit, Bewegung, Anstrengung, Strukturen, Rituale, Führung, Zugehörigkeit, Teamgeist, Anerkennung, Disziplin. Dies alles sei im Fußballspiel zu finden. Schule und Erziehung sollten dem entsprechen und diese Prinzipien berücksichtigen.

Aber so wie im Fußball – um im Bild zu bleiben – öfter schon mal „Befreiungsschläge nach vorne“ kommen, so finden sich bei Gegier Steiner dann auch Äußerungen wie die vom „Chancengleichheitswahn“ der 80er Jahre, dem viele Mütter verfallen seien, von denen sie auch eine war. Oder es fallen vereinfachende Sätze wie: „Wenn ich an Hooligans, Rechtsradikale und Dschihadisten denke, komme ich zu dem Schluss, dass die Leugnung der Geschlechterunterschiede schädlich für jede Gesellschaft ist.“ Das ist schade, denn es verdeckt das berechtigte Anliegen einer stärker jungengerechten Schule – zumindest für solche Leser wie mich.

Aber es findet sich auch anderes. Überzeugend und lesenswert wird das Buch für mich an den Stellen, wo Gegier Steiner aus der Motivation und Praxis einer bewegungsorientierten Schule referiert. Da finden sich Impulse für einen bewegungsorientierten Unterricht, Hinweise auf verbreiterte Fensterbänke als Stehpulte, auf Sitzbälle und Wippen im Klassenraum für die Motorik, auf die Gestaltung naturnaher Pausenhöfe; oder auch Ideen wie die Verabredung von Eltern und Kindern zum gemeinsamen Laufen auf dem Schulweg statt dem Bringen und Holen mit dem Elterntaxi.

Dass dies alles nicht nur eine andere Schule braucht, sondern dass auch Eltern in ihrer Erziehungspartnerschaft gefordert sind, das macht die Autorin ebenso deutlich. Vehement fordert sie vom weiblichen Geschlecht „Loslassen und die Männer mal machen lassen“. Grenzen setzen, Bewegungsangebote, Teamaufgaben, Handlungs- und Erlebnisorientierung… Immer wieder appelliert Birgit Gegier Steiner an Eltern und Schule, sich der Jungs in anderer Weise als vielfach gewohnt und eingespielt anzunehmen. Und alles liest sich recht locker und engagiert.

Nur, ist der Titel ein Werbegag? Der Begriff „artgerechte Haltung“ taucht erstmals auf Seite 240 auf. Das ist merkwürdig. Und er suggeriert in Verbindung mit dem Untertitel „jungengerechte Erziehung“ die Identität von Jungen und Art. Biologisch ist das leider falsch! Denn in der biologischen Terminologie definiert sich eine Art als Gesamtheit aller Organismen einer Spezies, die sich untereinander kreuzen und fruchtbare Nachkommen erzeugen können, das wären also die Menschen, nicht nur die Jungen. Ich verstehe ja die Werbestrategie, von der Sorge vieler „Ökos“ um die artgerechte Haltung von Hühnern, Schweinen und Kühen nun auch die Jungs profitieren zu lassen – aber es mindert in meinen Augen die Professionalität des Anliegens. Schade finde ich auch, dass sich Gegier Steiner in ihrem Bezug auf Akteure und Akteurinnen im Feld sich fast immer nur auf Frauen bezieht. Oder beziehen muss?

Denn wenn schon „Fußballpädagogik“, dann bleibt doch die Frage: Wo bleiben die Männer und Väter? Ich hoffe jedenfalls, dass dieser ausdrückliche Blick auf Jungs mehr ist als ein Streiflicht auf die Randpositionen von Männern in Familie, Erziehung, Bildung und Schule. Jungen wie Mädchen brauchen in ihrem Alltag das volle Programm: die Begegnung mit Frauen und Männern, mit denen sie Bindung erfahren und leben können – mit und ohne Fußball.

 

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. 2015

256 Seiten m. s-w Abb.

17,99 €

ISBN 978-3-579-07095-7

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