Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Bruno Kern: „Es rettet uns kein höh’res Wesen“

Karl Marx wurde vor 200 Jahren in Trier geboren. Wie kaum ein zweiter prägte er die Entwicklungen in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Auch Leninismus, Stalinismus, Maoismus und andere totalitäre Systeme haben sich auf ihn berufen, obwohl sie seine Denkansätze ideologisch überhöht, insgesamt sogar verraten haben. Selbst Katholische Soziallehre und Befreiungstheologie hätten sich ohne die Impulse von Marx nicht so entwickelt. In diesem Sinne gilt, was Oswald von Nell-Breuning einmal sagte: „Wir stehen alle auf den Schultern von Karl Marx.“ Umso bedauernswerter ist es, dass sich Christen und Theologen heute immer weniger mit Marx beschäftigen und die Kenntnis seiner Gedanken enorm zurückgegangen ist.

Einer unbefangenen und produktiven Rezeption von Marx in katholischer Kirche und Theologie stand meist dessen ablehnende Haltung zur Religion im Wege und legitimierte oft genug einen pauschalen und ideologischen Antikommunismus. Sein grundsätzliches Urteil über die Religion als „Opium des Volkes“ und seine eigene enge Verbindung von Religionskritik und Gesellschaftskritik ließ es für viele als unmöglich erscheinen, sowohl Marxist als auch Christ zu sein.

Nun hat der katholische Theologie Bruno Kern, der durch eine hervorragende Analyse der Marxismus-Rezeption in der Theologie der Befreiung bekannt geworden war (Theologie im Horizont des Marxismus, Mainz 1992), ein „solidarisches Streitgespräch“ mit Marx über dessen Religionskritik vorgelegt. Darin macht er einerseits deutlich, dass Marx seine Religionskritik weitgehend unkritisch seinem philosophischen Umfeld (Feuerbach, Linkshegelianismus, Aufklärung) einfach entnommen hat, ohne an theologischen Fragen besonders interessiert zu sein. Andererseits zeigt Kern sehr gut auf, wie ausgesprochen relevant für die Theologie und die Sozialethik die Fetischismus-Analyse von Marx ist, der nämlich im Kapitalismus einen von Menschen gemachten Mechanismus identifiziert, in dem sich die Personen als Produzenten nur über das Tauschverhältnis ihrer Produkte als Waren in Beziehung setzen. Anstatt direkte Beziehungen als Personen einzugehen, unterwerfen sie sich einer anonymen Dynamik von Sachen, obwohl sie diese zugleich selbst hervorbringen. Damit ergibt sich eine Parallele zur alttestamentlichen Götzenkritik, nach der der Mensch nicht eine von ihm selbst geschaffene Sache (das Götzenbild) anbeten und sich ihm unterwerfen darf. Diese Fetischismus-Analyse von Marx wurde in der Befreiungstheologie (besonders von Hugo Assmann und Franz J. Hinkelammert), von Papst Johannes Paul II. in „Laborem exercens“ (zur Begründung des „Vorrangs der Arbeit vor dem Kapital“) und zuletzt auch von Papst Franziskus aufgegriffen, der in „Evangelii gaudium“ (Nr. 55) den „Fetischismus des Geldes“ explizit anprangert.

Kern, der jüngst eine sehr hilfreiche Anthologie von Texten von Marx vorgelegt hat (Karl Marx, Texte und Schriften. Ausgewählt, eingeleitet und kommentiert von Bruno Kern, Wiesbaden 2015) gelingt in seinem Buch eine überaus kenntnisreiche und sehr gut verständliche Darstellung der Religionskritik von Marx und ihrer Rezeption in der Theologie. Er zeigt, wie aktuell diese Gedanken immer noch sind und wie sehr sie für eine gute, gesellschaftskritische Theologie von Relevanz sind. Zugleich lässt einen das Buch jedoch in doppelter Hinsicht etwas ratlos zurück. Wenn die Fetischismus-Analyse von Marx stimmt und man ihr theologisch zustimmt, dann scheint der Kapitalismus ein gesellschaftliches System zu sein, das nur zur Entfremdung führen kann, deshalb als „in sich schlecht“ zu brandmarken und zu überwinden ist. Zu der Frage, ob nicht durch soziale Absicherung, die Bereitstellung öffentlicher Güter und den Einsatz des Marktes als Mittel wirtschaftlicher Koordination, was freilich entsprechende politisch gesetzte Rahmenbedingungen erfordert, die Entfremdung überwunden oder mindestens erträglicher gemacht werden kann, nimmt Kern leider nicht Stellung. Aus ökologischer Rücksicht prangert Kern außerdem den „Wachstumszwang“ im Kapitalismus an und verurteilt alle Ansätze eines „grünen Wachstums“. Dabei übersieht er jedoch, dass die Messzahl des Bruttoinlandsprodukts (und seines Wachstums) neutral ist gegenüber der Art des Zustandekommens dieses Wachstum, das durchaus ökologisch verträglich sein kann. Unter geeigneten Rahmenbedingungen können das Wachstum der Umweltzerstörung (die schleunigst abnehmen muss) und das Wachstums des Bruttoinlandsprodukts sehr wohl entkoppelt werden. Die Lösung dieser beiden Probleme muss von Theologie und Sozialethik konstruktiv unterstützt werden, sollen sich eine Theologie und eine Sozialethik, die zwar von Marx lernen, ihn aber kritisch rezipieren, nicht in eine naiv antikapitalistische Schmollecke zurückziehen.

Zur Religionskritik von Karl Marx – ein solidarisches Streitgespräch
Ostfildern: Grünewald Verlag. 2018
141 Seiten
18,00 €
ISBN 978-3-7867-4034-6

Zurück