Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Carlo M. Martini: Die Flügel der Freiheit

Im Jahr 2008 leitete der schwer an Parkinson erkrankte Kardinal Carlo Maria Martini ein letztes Mal Exerzitien in Ariccia. Die Meditationen zum Brief des Apostels an die Gemeinde sind sensible Vertiefungen des Glaubens. Das letzte Buch des 2012 verstorbenen früheren Mailänder Erzbischofs wirkt wie das geistliche Vermächtnis eines liebevollen Seelsorgers, demütigen Priesters und weitherzigen Theologen. Martini begleitet sanft und geduldig die Hörerschaft und uns als Lesende heute mit Gedanken und Betrachtungen zum Römerbrief. Er bezeugt die Spuren des Evangeliums und lässt die Frohbotschaft hell aufleuchten. Mit einfachen Worten spricht Martini über die Schönheit des Glaubens. Er ermutigt dazu, sich Gott anzuvertrauen. Dazu erinnert er auch an die letzten Gespräche des heiligen Augustinus und seiner Mutter. In Ostia sprachen sie kurz vor ihrem Tod von der „Schönheit des Himmels“. Leise und diskret scheint in diesen Worten auch der spirituelle Lehrmeister Martini selbst auf. Seine Worte sind lichtreich und durchlässig für die Botschaft Jesu. Unsere Pilgerreise geht himmelwärts. Spuren der Hoffnung sind auch in die Beschwerlichkeiten des Alltags, besonders in die „Augenblicke des Dunkels“, eingezeichnet.

Mit Paulus wendet sich Martini der Gegenwart zu. Er berichtet von pastoralen Visiten, die er selbst unternommen hat. Oft habe er Unmut, Wehklagen und Resignation gehört, von Priestern und Laien. Er erwiderte dann: „Habt ihr denn nichts, wofür ihr Gott zu danken hättet?“ Es gab und gebe Gründe für „Danksagung“. Martini ermutigt die Geistlichen, die ihm zuhören, zu sagen: „Ich danke Gott, dass ihr hier seid, ich danke Gott für euren Glauben, eure Geduld, eure Ausdauer.“ Leserinnen und Leser mögen sich vielleicht fragen: Wofür sage ich Gott Dank? Wofür könnte ich Dank sagen? Und warum tue ich das vielleicht nicht?

Wichtig sei es, nach Heiligkeit zu streben, und ungut, die „Anforderungen der Heiligkeit zu übertreiben“, sowie „absurde, fast heroische Andachtsübungen auf die Schultern der armen Menschen zu legen“. Martini spricht auch von der Erosion des Glaubens: „Die grundlegende Sünde des Menschen besteht immer im Selbstruhm, in der Überzeugung, sich selbst retten zu können, statt Gott die Ehre zu geben, die ihm zukommt.“ Menschen kreisen um sich selbst, ehrgeizig, beflissen und hochmütig. Sie geben Gott in ihrem Leben keinen Raum, werden zynisch, lieblos und aggressiv. Wer Gott aus dem Blick verliert, der verliert sich selbst. Carlo Maria Martini nimmt Paulus als Beispiel, der die Gemeinde in Rom ermutigen und stärken wollte. Der Apostel wurde nicht müde, „überall Samen des Guten auszusäen und der göttlichen Vorsehung das Keimen und die Früchte zu überlassen“. Sind auch wir dazu bereit?

Persönlich bekennt sich Martini zur Schönheit des Gebetes. Eine „vernünftige Grundlage“ dafür habe er nicht: „Ich bete, weil Jesus gebetet hat; ich bete, weil der Herr uns zum Gebet einlädt; ich bete, da das Gebet ein Geheimnis ist, das man vernünftig nicht erklären kann. Das Gebet versetzt uns in das Herz Gottes, in den Sinn Gottes, es erweitert die Dimension des Geistes. … Im Gebet fließen gelegentlich Tränen. Diese Tränen sind gesegnet wie eine Taufe.“

Ein betender Mensch sei auf dem Weg in die „Freude des Herrn“. Carlo Maria Martini hat daran geglaubt. Diese berührenden Meditationen berichten von guten und zugleich oft nicht einfachen Wegen mit und zu Gott – gestern und heute.

Meditationen zum Römerbrief
Übersetzt und eingeführt von Johannes Beutler SJ
München: Verlag Neue Stadt. 2021
140 Seiten
16,00 €

ISBN 978-3-7346-1248-0

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