Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Christian Lehnert: Ins Innere hinaus. Von den Engeln und Mächten

Christian Lehnert ist mit seinen bei Suhrkamp veröffentlichten Gedichtbänden bekannt geworden. Der evangelische Pfarrer, Librettist und Liturgiewissenschaftler hat, ebenfalls bei Suhrkamp, nach Essays über Paulus (2013) sowie über Kult und Gebet (2017) mit „Ins Innere hinaus“ (2020) einen weiteren Prosaband vorgelegt. Die dreiundsechzig Texte – manche nur eine Seite, andere über 10 Seiten lang – schauen auf die Natur und die eigene Biografie, befassen sich mit Musik, (Ausdrucks-)Tanz und bildender Kunst, beziehen sich auf Religionswissenschaft, Liturgie, Theologie und Philosophie oder legen Bibeltexte aus. Die Prosastücke sind nur locker über Leitworte miteinander verknüpft. Diese Form hängt mit dem Inhalt zusammen, den der Untertitel „Von den Engeln und Mächten“ (später kommen die „Gewalten“ hinzu) angibt. Lehnert, der einen – biografisch grundierten – Beitrag zu einer zeitgemäßen Angelologie vorlegt, hat nämlich die Befürchtung, dass eine hypostasierende (theologische) Begriffsbildung das passagere „Fremde“, das Engel ja stets sind, fixieren und „im Zugriff der Worte … ersticken“ könnte (so die Umschlagrückseite, die Seite 201 zitiert). Aus diesem Grund variiert Lehnert in immer neuen Anläufen seine Blickwinkel und seine sprachlichen Annäherungsversuche. Was aber sind „Engel“ und welche Bedeutung haben sie für den Autor?

1969 in Dresden geboren, hat Lehnert in der Schule das übliche kirchenfeindliche Programm absolviert. Trotzdem kommt es bei dem Jugendlichen zu einem „plötzlichen und unerwarteten Aufbrechen einer existentiellen Gottesfrage“ (190), die ihn zum „ganz fremden Ortspfarrer“ und schließlich zur Konfirmation – „das Wort ‚Konfirmation‘ war nur eine Chiffre für das mir noch ganz Unbekannte“ (192) – führt. Wenig später verweigert er den Kriegsdienst und muss stattdessen als Bausoldat mit Kameraden gefährliche Arbeit in den maroden Leunawerken leisten (180-185). Gott erlebt er als einen nahen und doch immer entzogenen Gott – und wäre ohne die „Mächte, die Engel und Thronoi und Gewalten … verloren gewesen“, weil er „in ihren Gestalten [Gott] zu erfahren“ glaubt (218). Lehnerts Überlegungen zur Angelologie gründen also auf persönlichen Erfahrungen. Was aber sind „Engel“?

Es gibt Engel, denn für Menschen, die sie erfahren haben, sind sie evident und haben deren Leben verändert. Es gibt keine Engel, denn sie hinterlassen außerhalb der subjektiven Reaktion keinerlei nachweisbaren Spuren. Engel kommen von außerhalb, aber lassen sich nur im je eigenen Inneren vernehmen. Ihr Erscheinen ist passager: ein Vorübergehen, ein „verzögertes Verschwinden“ (21). Ihre Erscheinung ist ein Gestus, ein Hinüber bzw. Transzendieren aus dem Hier und Jetzt in ein offenes Dort (was den Buchtitel „Ins Innere hinaus“ erklärt); Engel eröffnen also Freiheitsräume. In einem Gestus – einer Menschengeste, einem Wort, einem Luftzug, einem eigentümlichen Licht, einem Tier oder in der Natur – kann ganz unvermutet der unsichtbare Gott aufscheinen (175) und zur Erfahrung werden. So beginnt und endet das Buch mit einer theopoetischen Naturbetrachtung: Im Blick auf die Wiese vor dem Haus im „mittäglichen Märzlicht“ gewinnt der Betrachter auf einmal den Eindruck, als „erwarte [sie] jemanden – deshalb wohl zittere sie“ (20, 219). Ein Gott, schreibt Lehnert, „der in mir Erfahrung werden will“ (13), bedient sich der Engel. Bei  „Diesseitsmenschen“ (24) freilich, die meinen, sich selbst und die Wirklichkeit ganz durchschaut zu haben, haben Engel, diese flüchtigen Wesen zwischen Gott und Welt, keine Chance anzukommen.

Über diesen oft variierten Kern hinaus befasst sich Lehnert u.a. aus religionswissenschaftlicher Sicht mit Genese und Funktion des Engelsglaubens sowie Dionysius Areopagitas höchst vorläufiger Taxonomie der Engel in neun Chören. Er stellt Zusammenhänge zwischen Engelsgesang und Liturgie her und betrachtet Engelsbilder, die sich zwischen „Engelsramsch“ (65) und theologisch reflektierter, die Wahrnehmung irritierender Darstellung bewegen. In Kunst und Religion sieht er „subversive Gespenster“ (128), die in die Offenheit führen: Die Kunst, die sich an den Einzelnen richtet, verstört, indem sie „Wahrnehmungsräume weitet und andere Welten entwirft“ (128). (Die Kaltnadelradierung von Claudia Berg auf dem Umschlag mag dafür ein Beispiel sein.) Die Kirche, die eine Glaubensgemeinschaft bildet, verstört, weil sie von dem „ganz Anderen“, von den Lebensgrenzen Geburt und Tod sowie vom Menschen als Sünder spricht (128).

Die Bibelauslegungen des Verfassers stellen die existentielle wie theologische Bedeutung der Texte heraus. Zum einen werden einschlägige biblische Perikopen zur Engelsthematik – u.a. Hagar, Ismael und der Engel (Gen 16), Lot und die beiden Boten in Sodom (Gen 19,1-22), Jakobs Kampf mit dem Boten am Jabbok (Gen 32,23-33) oder der Jesus auf dem Ölberg stärkende Engel (Lk 22, 39-46) – vorgestellt. Zum anderen geht es um die Gottesthematik im engeren Sinn: Beeindruckend sind Lehnerts Annäherungen an die traumatische Berufung des Propheten Ezechiel (Ez 1) oder an die Vision von der Auferstehung der Gebeine (Ez 37,1-14). Unter der Überschrift „In den Aporien des Monotheismus“ befasst er sich mit Elija, dem Propheten des – wahren – Monotheismus, der glaubt, die Priester des – unwahren – Baal abschlachten zu dürfen; in der Wüste verweist ihn ein Engel auf den so anderen Gott, der sich als „verschwebendes Schweigen“ (1 Kön 19,12 nach M. Buber) offenbart.

Wie kann die verborgene Gegenwart Gottes und seiner Engel in Worte gefasst werden? Lehnert bringt die Phänomenologie eines Bernhard Waldenfels und mystische Autoren – wie Hildegard von Bingen, Meister Eckhart, Heinrich Seuse, Johannes Tauler und besonders Jakob Böhme – in seinem vielstimmigen „ikonischen Schreiben“ (76) ins Spiel. Dass sein Buch ein zutiefst religiöses ist, verdeutlichen die drei (auch von Johann Sebastian Bach verwendeten) Buchstaben „S.D.G.“ am Schluss: Soli Deo Gloria, allein Gott sei Ehre.

„Ins Innere hinaus“ lässt sich nicht in einem Rutsch lesen. Es erfordert Geduld und die volle Aufmerksamkeit von Leserin und Leser. Belohnt werden sie mit neuen und manchen irritierenden Einsichten – und vielleicht der Anregung, nach den eigenen „Engeln und Mächten“ Ausschau zu halten.

Berlin: Suhrkamp Verlag. 2020
239 Seiten
22,00 €
ISBN 978-3-518-42957-0

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