Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Christian Schäfer: Was ist das Böse?

Philosophische Texte von der Antike bis zur Gegenwart

Der Whistleblower hat gut pfeifen, er weiß ganz genau, was böse ist, und schämt sich seiner Offenheit nicht. Der Krieger gegen das evil empire weiß ganz genau, wer böse ist – und greift an. Und wir haben allen Grund, verstehen zu wollen, was denn wirklich böse ist. Da kommt das neue Reclam-Büchlein wie gerufen. 

Der Untertitel „Philosophische Texte von der Antike bis zur Gegenwart“ trifft zu. Ansonsten werden die Fragen so verstanden, wie die Autoren es gern hätten – willkommen im Land der Philosophen. Jedenfalls werden die pragmatischeren Fragen des Klappentextes nicht ernsthaft, bestenfalls en passant, aufgegriffen, etwa diese Dauerangst der Erzieher von Jugendlichen: „Verunstaltet das Zusammensein mit bösen Menschen…?“ 

Peinlichkeiten gehören zum Genre: rhetorische Tricks von Voltaire oder das Macho-Getue von Nietzsche; schließlich auch, peinlich trotz aller pflichtschuldigen Verehrung, Kants Wirklichkeitsverdrängung durch Hyper-Moralisierung. Die Philosophen stellen ihre eigenen Fragen und kultivieren ihre Steckenpferde – jeder Autor auf seine eigene Art, trotz der Berge an Querverweisen. Das respektiert der Reader, das ist seine regelrechte Stärke! 

Welche Autoren? Zuerst einmal der kundige Herausgeber und Kommentator Christian Schäfer; dann teils die zu erwartenden Verdächtigen (Plato, Augustin, Thomas, Kant), teils vielversprechende Außenseiter (Dionysius, Schelling, Arendt), insgesamt 15 Autoren. Es fehlen Experten der Psychoanalyse, des Materialismus und der phänomenologischen oder analytischen Philosophie, Fehlanzeige selbst für Meister Eckhart (das Problem der fundamentalen Destruktion: Kann das sündige, durch Vernunftverzicht erzeugte Nichts nicht so destruktiv sein, dass alles lustlos, vergebens wird?) oder Machiavelli. Der Herausgeber siebt auf eigenes Recht und Risiko die darzustellenden Autoren aus. 

Seine These ist der Variantenreichtum des Themas, gegliedert erstens durch die Privationsthese (Plotin: das Böse als Defekt am ursprünglich Guten) und zweitens deren Krise (Lessing: Stichwort Lissabon; heute: Auschwitz als vernunftunzugängliches Übel), gefolgt drittens von Orientierungslosigkeit seit 1800.

Was bedeutet es, einen vernünftigen Begriff des Bösen zu haben? Möglicherweise hilft es, mit dem Übel umzugehen (Paul Ricoeur) und es zu ertragen, wenn man sich eine Erklärung bewusst macht, wie es zu diesem zerstörerischen Zustand gekommen ist. Die vernichtende Kraft des Bösen wird, einmal erkannt, selber angegriffen und der Schwächung ihrer totalen Zerstörungsmacht ausgesetzt.

Gibt es einen praktischen Nutzwert dieser Überlegungen für die Bildungsanstalten? Einzelne Texte taugen für den Ethikunterricht. Wichtiger scheint mir in Zeiten eines in Schulen grassierenden (nationalen, religiösen, respektsammelnden) Beleidigtseins und Verschwörungswahns, den Gedanken selbst und die damit angestrebte Praxis hochzuhalten. Denn gelehrt werden Besonnenheit und Intelligenz als praktische Lebensform zu Zeiten, da einem zweifelsohne Unrecht, Unsinn und Bosheit begegnen können. Den zu lernenden Akt hat Arnold Gehlen als Hiatus bezeichnet, als Austritt der Vernunft aus den Krämpfen der Situation: Das bedachte Gegensatzpaar ist also nicht gut versus böse, sondern Panikstarre versus Gelassenheit.

Sicher kann man auch lernen, how to do evil things with pretty philosophers’ words. Nur dass für den kleinen Prestigegewinn die Lektüre reichlich anstrengend ist. Umso wichtiger sind die Highlights unter den Verstehensangeboten, wie das von Hannah Arendt.

Stuttgart: Reclam Verlag. 2014
319 Seiten
10,80 €
ISBN 978-3-15-0192660-3

 

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