Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Christoph Wrembek: Judas, der Freund

Du, der du Judas trägst nach Hause, trage auch mich

Vorstellungen über die „letzten Dinge“, über Sünde – Gericht – Erlösung – Hölle, haben die Theologie schon immer in Atem gehalten. Im Blick auf diesen schwierigen, die Alltagserfahrung transzendierenden Themenkreis will uns der Autor eine „Schatzkiste des Glaubens, der Spiritualität und der Lebensgestaltung öffnen“ (74).

Ausgangspunkt für den Jesuitenpater, Priesterseelsorger und Missionar Wrembek sind wohl zum einen Erfahrungen seiner seelsorgerlich-therapeutischen Tätigkeiten, die ihn nur zu oft die krankmachenden Folgen „religiösen Psychoterrors“ (150) gegen unzählige Gläubige erleben ließen, weil die verdammende kirchliche Tradition jenen einreden wollte, Jesu Todesgeschick sei ein Opfer ihrer Schuld. Der andere Ausgangspunkt ist die Interpretation eines Kapitells in der romanischen Basilika von Vezelay, dem der Steinmetz vor ca. 900 Jahren eine auf den ersten Blick geheimnisvolle Botschaft eingemeißelt habe und die zentrale jesuanische Botschaft von Sünde, Gericht und Erlösung zur Darstellung bringen soll: Das Kapitell zeigt einen Mann im ikonografischen Gestus des „guten Hirten“, der eine zweite Person über den Schultern trägt. Der Autor interpretiert und identifiziert dieses Setting gewissermaßen als eine Darstellung einer Soteriologie in Stein: Der gute Hirt „trägt Judas nach Hause wie das verlorene Schaf“ (10). Mit diesem außergewöhnlichen Bildwerk, das den Gekreuzigten und Auferstandenen ausgerechnet mit dem größten aller Sünder und Verräter – über den das Herrenwort ergeht, es wäre „besser, wenn er nie geboren wäre“ (Mt 26,25) – zeigt und liebevoll heimholt, möchte der Autor die heilende, erlösende Grundbotschaft Jesu explizieren, ja ihren Höhepunkt finden lassen: In Jesu Menschenliebe zeigt sich, dass Gott, der seine Schöpfung unter keiner Bedingung aufgibt, jeden Menschen retten will. Je weiter sich jemand von Gott entfernt hat, desto liebevoller wendet sich dieser jenem zu; der Sünder empfängt nicht nach Gerechtigkeitsmaßstäben, was der verdient, sondern aus Gnade, was er braucht.

Diese, dem alten Theologumenon der Apokatastasis (in der Schrift nur schwach bezeugt, kirchengeschichtlich vor allem von Origenes vertreten und vom Lehramt verworfen) nahe Position, möchte der Autor durch ausführliche Auslegungen (79 ff) der jesuanischen Gleichnisse „von den drei Verlorenen“ (verlorener Sohn / verlorenes Schaf / verlorene Drachme) belegen: Gott sucht jeden Sünder, bis er diesen findet – kehrt er nicht zu Gott um, so kehrt dieser sich liebevoll zum Sünder. Die unabweisbaren Gerichtsdrohungen Jesu seien als Warnung vor dem Gericht zu verstehen, letzteres bestehe in einer reinigenden Rettung des Sünders, einer „himmlischen Reha“ (75 f).

Auf dem Hintergrund dieser allgemeinen soteriologischen Aussagen entwirft der Autor ein spezielles Judas-Bild: In der Glaubenstradition firmiert der Verräterapostel entweder negativ als verachtenswürdiger Verlorener (in den Apostellisten stets an letzter Stelle genannt, gemeiner Verrat, Suizid in Verzweiflung …) oder positiv als (unfreiwilliges?) Werkzeug der Heilsgeschichte, ohne den es Karfreitag und dann folgend Ostern nicht gegeben hätte. Wrembek zeichnet Judas nun folgendermaßen: Alle zwölf Apostel haben Jesus als vermeintlich politischen Aktivisten verkannt und somit ihn und seine Sendung (zumindest gedanklich) verraten. Judas ging – um vielleicht den ersten Platz im Gottesreich zu erhaschen – einen praktischen Schritt weiter: Er wollte qua Verrat an das gesellschaftliche Establishment seinen Meister in eine Situation manövrieren, in der dieser endlich seine Allmacht zeigen würde. Jesus würde dann zum Mann aus Iskariot sagen: „Judas, das hast du dir toll ausgedacht.“ (138) Als diese Inszenierung dann aus dem Ruder lief, sei Judas „womöglich der Erste, den seine Einstellung, die auch bei den anderen Aposteln vorhanden war, reute. Der Erste …, dem aufging, wozu Jesus wirklich Mensch geworden war“ (138 f). Judas erlangt somit im Guten wie im Bösen eine Art Spitzenstellung im Umfeld Jesu.

Soweit die Position des Autors – was bleibt kritisch anzumerken? Beginnen wir mit dem zuletzt dargestellten Aspekt: Obwohl der Autor einräumt, die Zeugnisse der Schrift bezüglich Judas „sind dürftig, gehen weit auseinander und vermischen sich mit Deutungen“ (129) und auf dieser Grundlage sei es „einigermaßen schwierig“ (ebd.), diese Person belastbar nachzuzeichnen, ist er in seinem persönlichen Bild und Urteil sehr sicher; ja, er gibt sich sogar den Nimbus eines Erstentdeckers. Ein Beispiel stellvertretend für viele: Der Steinmetz des genannten Kapitells habe seine Botschaft „heimlich gegen alle Tradition … hoch oben im Dunkel versteckt“ (151) und „bis heute hat niemand sein Geheimnis enthüllt… Bis mir eines Tages etwas in die Augen fiel“ (ebd.). Dies und vieles mehr, vor allem Exegetisches, hat den unbefriedigend-unabgesicherten Status sehr subjektiver Hypothesen („… wir wissen es nicht“, 138; „gewiss, das steht so nicht im Text“, 24); zudem gibt der Autor im gesamten Opus keinen einzigen Quellenverweis. Am schwersten wiegt jedoch das zu wenig die eigene endliche Erkenntniskraft in Rechnung stellende naive analoge Reden angesichts der doch hochkomplexen Verhältnisse bezüglich der „Letzten Dinge“. Allzu menschliche Vorstellungsweisen bestimmen nicht nur zu oft die Wortwahl (z.B.: Gericht als „himmlische Reha“), sondern auch Substantielles in der Aussage: Wenn es darum geht, ob Gott die böse, aber frei gefasste Entscheidung des Sünders respektiere, wird dieses Dilemma zu folgender Situation in Analogie gesetzt: „Aber kein Sanitäter, … der den Schwerverletzten liegen sieht, wird „dessen ‚Freiheit‘, dumm und falsch gefahren zu sein, ‚respektieren‘ und ihn liegen lassen …“ (92) Das vielschichtige Grundproblem der Verhältnisbestimmung von frei geschaffenem Menschen zum Schöpfergott wird hier und auch sonstwo im Buch nicht adäquat bedacht. Eine interessante Herausforderung ist und bleibt allerdings die Idee und der Versuch Wrembeks, über die zwielichtige Gestalt des Judas eine biblisch-christliche Soteriologie zu entwerfen.

Oberpframmern: Verlag Neue Stadt. 2017
158 Seiten m. s-w Abb.
16,95 Euro
ISBN 978-3-7346-1131-5

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