Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Claudia Gärtner / Stefan Gärtner: Was die Stunde schlägt

 

Die Zeit spielt im christlichen Glauben eine zentrale Rolle. Sie strukturiert die christliche Deutung der Geschichte als Heilsgeschichte und ist ein existenzielles Thema, denn das Leben ist begrenzt durch die Zeitspanne von der Geburt bis zum Tod.

Vor diesem nicht thematisierten, aber implizit mitgedachten Hintergrund setzen sich die Pastoraltheologen Claudia und Stefan Gärtner mit dem Thema „Zeit“ auseinander. Sie tun dies, indem sie Kunstwerke aus der Vergangenheit, aber vor allem aus der zeitgenössischen Kunstproduktion auf ihre Auseinandersetzung mit der Zeit hin untersuchen. Sie wollen Einsichten aus den Zeiterfahrungen der Künstlerinnen und Künstler schöpfen, um das Zeitgefühl der Gegenwart aufzuspüren und um zu erkennen, „was die Stunde schlägt“.

In einem einleitenden Kapitel machen sie den Leser mit den Instrumentarien und Begriffen ihrer Analyse bekannt. Sie unterscheiden anhand von zwei Werken von Joseph Kosuth und Franz Gertsch die objektive (Uhr-)Zeit von der subjektiven Zeit, in die persönliche Erinnerungen, Ängste und Hoffnungen einfließen. Auch Aspekte wie Beschleunigung, Verlangsamung, Sehnsüchte, Verdrängungen einer nicht bewältigten Vergangenheit oder Erwartungen einer besseren Zukunft gehören zu den subjektiven Elementen eines umfassenden Zeitbegriffs.

Für die Werkanalyse wichtig ist die Unterscheidung von Bildzeit, Betrachtungszeit und historischer Zeit. Bildzeit betrifft jene ästhetischen Verfahren, durch die ein unsichtbares Phänomen wie die Zeit in einem Kunstwerk sichtbar gemacht wird. Betrachtungszeit ist die Dauer, die der Rezipient vor dem Werk verbringt und die abhängig ist von dessen Anspruchsniveau, der Gestimmtheit des Betrachters oder von zufälligen Umständen, wie dem Zeitkontingent einer Besuchergruppe im Museum. Da viele Kunstwerke Auskunft über vergangene Kulturen und Epochen geben, sind sie auch Zeugnisse historischer Zeiterfahrungen.

In drei Kapiteln – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – werden am Beispiel von Kunstwerken die unterschiedlichen Aspekte von Zeit untersucht. Dabei machen neben den genannten Aspekten Themen wie „Vergangenheit als Konstrukt“, „Verdrängung der Geschichte“, „Verklärung der zyklischen Zeit“, „Verlorenes Paradies“, „Leerer Himmel“, „Katastrophales Ende“ neugierig. Bei der Auswahl der Kunstwerke scheinen die Autoren auf Originalität bedacht, indem sie auf weithin unbekannte und unverbrauchte Werke als Anschauungsmaterial zurückgreifen. So ist wohl zu erklären, dass etwa Vanitas-Stillleben, die besonders eindringlich die Vergänglichkeit vor Augen führen, nicht berücksichtigt werden. Aus der mittelalterlichen Kunst werden eher weniger bekannte Werke herangezogen, wie eine Gregorsmesse von 1510 oder eine Auferstehung Christi von 1525. Es dominieren Objekte aus der zeitgenössischen Kunstproduktion und hier vor allem von Künstlern, die selbst einer kunstinteressierten Öffentlichkeit kaum bekannt sein dürften. Das ist kein Mangel. Denn die sorgfältigen und sensiblen Erklärungen und die zurückhaltenden Interpretationen aus theologischer Sicht zeigen, dass es sich durchweg um Künstler mit hohem theoretischem Anspruch und um diskussionswürdige Kunst handelt. So erfährt der Leser viel über zeitgenössisches Kunstschaffen und über Erfahrungen von Zeitlichkeit, wie sie heutiges säkulares Bewusstsein prägen.

Leider bleibt neben der ästhetischen die theologische Zeitansage unterbelichtet. Es stellt sich für mich bei all den schätzenswerten Zeitanalysen, die aus der Literatur oder der Kunst erhoben werden, die Frage, wie Theologie und Kirche auf den darin zu Tage tretenden Traditionsbruch reagieren können. Wie kann die Kirche an heutiges Zeitempfinden anschließen, ohne die eigene Identität preiszugeben? Gegenüber solchen grundsätzlichen Anfragen sind das den Lesefluss störende zwanghafte Bemühen um gendergerechte Sprache und manche sprachlichen Mängel eher marginal.

Eine ästhetisch-theologische Zeitansage mit Kunst
Ostfildern: Matthias Grünewald Verlag. 2020
127 Seiten m. farb. Abb.
22,00 €
ISBN 978-3-7867-3190-0

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