Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Clemens Sedmak: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“

Zur Anwendung der Katholischen Soziallehre

Als Ziel des Buches nennt der österreichische Theologe Clemens Sedmak, der sowohl für Philosophie als auch für Fundamentaltheologie habilitiert wurde und inzwischen am King’s College in London lehrt, die Sondierung von Anwendungs- und Umsetzungsproblemen der Katholischen Soziallehre. Er beginnt seine Ausführungen ganz grundlegend mit dem Prinzip der Menschenwürde und macht dabei die These stark, dass weniger stichhaltige Argumente als vielmehr eine exemplarische „tiefe Praxis“ der Menschenwürde entscheidend sei, weil sie unter erschwerten, besonders herausfordernden Bedingungen den persönlichen Einsatz deutlich mache, der Menschen motiviere und dadurch andere beeindrucken könne. Daran anschließend weist er der Soziallehre einen „therapeutischen Status“ zu, weil es ihr gelingen könne, „Sozialpathologien“ zu heilen. Das ist möglich, weil die Soziallehre nicht einfach eine weitere Sozialtheorie darstelle, sondern wegen ihrer theologischen Verankerung eine vertiefende Fundierung mitbringe. Auffällig ist dabei, dass der Autor meist ohne weitere Differenzierung von „Soziallehre“ spricht, ohne dass deren historische Entwicklung, ihre innere Widersprüchlichkeit oder die Pluralität sozialethischer Ansätze in den Blick kämen.

Um die Sozialprinzipien für die Anwendung und Umsetzung fruchtbar zu machen, versucht es der Autor mit dem „Portraitieren“ von Prinzipien, worunter er eine persönliche, durch Lebenserfahrungen und exemplarische Praxis unterstützte, dichtere und anwendungsorientiertere Beschreibung versteht, wie sie sich unter anderem in persönlicher Aneignung der Prinzipien und einer Umsetzung in „Selbstexperimenten“ zeigen kann. Durch „rohes Denken“ ohne übertriebene Systematisierungsansprüche, aber in direkter Bezugnahme auf konkrete Problemlagen könne viel besser aufgezeigt werden, worum es der Soziallehre letztlich gehe. Auf diese Weise wird die Soziallehre letztlich als „Spiritualität“ zu verstehen und fruchtbar zu machen versucht.

Das Buch beinhaltet eine Fülle durchaus wichtiger Anregungen. Interessant sind die vielen Hinweise auf englischsprachige Literatur zum Thema. Es bleiben jedoch sehr viele Fragen offen. Gerade im Blick auf Anwendung und Umsetzung hätte ich mir viel mehr Ausführungen zur Notwendigkeit genauer sozial- und wirtschaftswissenschaftlicher Analysen in interdisziplinärer Zusammenarbeit erwartet, unter anderem, um deutlich zu machen, dass individuelle, persönliche Perspektiven (und auch die damit verbundene Spiritualität) sicherlich nicht ausreichen, um die besonderen Probleme spätmoderner Gesellschaften zu verstehen, und um zu vermeiden, allzu schnell für gangbar gehaltene Lösungen umzusetzen, ohne auf kontraintuitive Folgeprobleme zu achten. Beispielsweise werden beim Thema „gerechter Lohn“ Fragen der Wirkungen von Mindestlöhnen oder höherer Löhne auf den Arbeitsmarkt überhaupt nicht thematisiert, obwohl solche Nebeneffekte gerade für Geringqualifizierte sehr nachteilig sein können. Es reicht eben nicht, nur „Mikrotheorien“ zu entwickeln, so wertvoll diese auch sein mögen. Sozialethik als Institutionen- und Strukturenethik, wie sie gerade im deutschsprachigen Raum intensiv betrieben wird, kommt hier eindeutig zu kurz. Es fällt auf, dass der Autor nur sehr wenig auf die aktuellen, im Fach Sozialethik geführten Diskurse Bezug nimmt, selbst wenn dies im Blick auf die behandelten Einzelthemen sehr wohl nahegelegen hätte. „Anwendung“ und „Umsetzung“ haben für den Autor offenbar vor allem mit Fragen der persönlichen Motivation zu tun, weniger mit dem Problem, in einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft die sozialethischen Forderungen jeweils in den Eigendynamiken der verschiedenen Subsysteme implementieren zu müssen.

Offensichtlich ist das Buch aus verschiedenen, ursprünglich selbständigen Textteilen zusammengestellt worden. Einzelne Doppelungen von Passagen oder Ausführungen in Fußnoten sind dabei nicht vermieden worden. Manche Textteile, z.B. die eigentlich sehr interessanten Passagen über das Betteln im öffentlichen Raum, brechen ziemlich unvermittelt ab, ohne dass man erfahren würde, wie man denn jetzt selbst konkret im Alltag auf bettelnde Menschen reagieren sollte oder wie durch sozialstaatliche Maßnahmen Obdachlosen wirklich besser geholfen werden könnte. Für manche Leserinnen und Leser dürfte es abschreckend sein, dass Zitate aus englischen Publikationen immer, häufig aber auch aus spanischen oder lateinischen Texten ohne Übersetzung in der Originalsprache wiedergegeben werden, obwohl solche Übersetzungen, wie im Falle von Konzilsdokumenten oder Sozialenzykliken, leicht verfügbar gewesen wären.

Das Buch kann zeigen, wie wichtig die Motivation zu einem Handeln im Sinne der Soziallehre ist und wie sehr diese zur Spiritualität eines Christenmenschen gehören muss. Konkrete Lösungsvorschläge für die bedrängenden Gerechtigkeitsprobleme gegenwärtiger spätmoderner Gesellschaften bietet es jedoch kaum.

Regensburg: Friedrich Pustet Verlag. 2017
296 Seiten
29,95 €
ISBN 978-3-7917-2774-5

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