Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Daniele Dell’Agli: Aufruhr im Zwischenreich

Daniele Dell’Agli ist ohne Weiteres zuzustimmen: Wir, die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, müssen die Systemfrage stellen und brauchen eine Revolution in unserer Kultur des Alterns und Sterbens: Wir sollten ernsthaft über Menschenrechte im Alter nachdenken, selbstbestimmte Wohn- und Lebensformen am Lebensende ermöglichen, unsere Endlichkeit enttabuisieren, die Medikalisierung der zweiten Lebenshälfte hinterfragen, usf. Im Zuge dessen mag argumentativ über die These des Autors gestritten werden, dass die Individualisierung der Lebensführung und die Einmaligkeit des je eigenen Todes in eine ästhetische Perspektivierung des Sterbens münden müsse, unter der die Abgabe von letalen Substanzen an Suizidwillige letztlich ebenso zu legalisieren ist wie die Tötung auf Verlangen.

Seiner streitbaren These erweist Dell’Agli mit seiner Schrift jedoch keinen Dienst, auch wenn oder gerade weil er sie in die Form des Essays gießt. Erstens darf ein Essay durchaus spitzzüngig, sarkastisch, etc. sein – die Grenze zwischen geistreicher Überspitzung und platter Bezichtigung überschreitet der Autor jedoch des Öfteren und bleibt so unter seinem Niveau. Dies mag der großen Wut und Empörung des Autors geschuldet sein, die sich offenbar aus zwei Szenen speisen: dem elenden Versterben der Mutter in Rom und dem Ableben eines krebskranken Nachbars in Kassel, beide offensichtlich unter inadäquatem Therapieziel behandelt bzw. nicht angemessen palliativmedizinisch versorgt.

Seine Empörung ist natürlich verständlich, repliziert aber, zweitens, einen Modus, den er anderen zum Vorwurf macht: Denn während Dell’Agli die deutschen Bundestagsabgeordneten in der Gefahr sieht, bei der Abstimmung über § 217 StGB ihren Verstand auszuschalten und „Erfahrungen mit dem Tod Nahestehender zur Richtschnur ihres Votums zu machen“ (20), lässt er sich offenbar von zwei solchen Begebenheiten leiten, um zu seiner Meinung zu gelangen. Nichts deutet darauf hin, dass er seine Ausführungen auf eine größere empirische Basis zu stellen versuchte, tatsächlich mit betroffenen Menschen gesprochen hätte.

Persönliche Besuche in Palliativstationen, Hospizeinrichtungen und Krankenhäusern hätten ihm dann, drittens, vielleicht gezeigt, dass zwar in der Tat vieles im Argen liegt und es eines Systemwandels bedarf (s.o.). Zugleich wäre ihm aber vielleicht klar geworden, dass Pflegekräfte, Ärzte und Hospizbetreiber nicht erst dann einen Finger rühren, wie er behauptet, wenn sie bezahlt werden. Vielleicht wäre ihm dann auch aufgegangen, dass im Falle des moribunden Nachbars ein Wechsel des betreuenden Arztes oder Pflegeteams vieles zugunsten einer besseren palliativen Versorgung hätte bewirken können. Was der Autor zu Recht von der Gesellschaft fordert: mehr Kommunikation über das Sterben, eine Entmarginalisierung der Alten – der Leser seines Essays fragt sich, warum Dell‘Agli dies nicht wenigstens schon einmal im Kleinen umgesetzt und die Nachbarsfamilie in einer guten Arztwahl unterstützt hat (auch wenn dies zugegebenermaßen natürlich nicht die großen Fragen und Missstände löst) oder warum er nicht zusammen mit seiner Mutter, einer gläubigen Katholikin, eine Patientenverfügung aufgesetzt hat, wie es von den Deutschen Bischöfen explizit empfohlen wird.

Viertens wäre es wohl ein Leichtes, ein ähnlich empörtes Essay zu verfassen, den grundlegenden Wandel der Sterbekultur zu fordern und die eigene Belesenheit anzeigend zahlreiche Theoretiker und Autoren zu zitieren, aber zu gänzlich anderen Schlussfolgerungen, etwa zur strikten Ablehnung der Beihilfe zum Suizid oder der aktiven Sterbehilfe, zu gelangen. Man müsste sich nur auf die von Dell’Agli geschmähten Philosophen beziehen und seine Gewährsleute verbal abkanzeln. Eine kluge Argumentation oder eine breite Basis empirischer Daten, weshalb man seinem Ansatz folgen und den Gegenessay ablehnen sollte, offeriert Dell’Agli leider nicht.

Stattdessen ergeht sich der Autor in den letzten beiden Kapiteln in der Besprechung von Filmen, die das Sterben thematisieren und die die Feuilletons im Gegensatz zu ihm natürlich nicht richtig verstanden haben, bzw. referiert er über die Nirwanologie der Ambient Music, die ein angstfreies Verlassen dieser Welt ermöglichen soll. Und auch hier hat Dell’Agli messerscharf und prophetisch das Potential des „alphawellentemperierte[n] Klangbad[es]“ (114) jenes Musikstils erkannt, das er dem „Autismus des Free Jazz“ oder dem „Authentizitätsgejammere des Blues“ (113) gegenüberstellt – vielen Dank für diese privilegierten Informationen, denkt sich da der Rezensent. Aber was würde Dell’Agli wohl sonst von einem ewiggestrigen, funktionselitären Blatt wie dem „Eulenfisch“ erwarten?

 

Wilhelm Fink: Essays

Paderborn: Wilhelm Fink Verlag. 2016

135 Seiten

16,90 €

ISBN 978-3-7705-5995-4

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