Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Dina El Omari: Koranische Geschlechterrollen in Schöpfung und Eschatologie

 

2015 wurde der damalige Vorsitzende der Islamischen Religionsgemeinschaft Oberösterreich von der Zeitung Volksblatt interviewt. Darin äußerte er sich auch zur Frage der Geschlechterrollen. Er sagte, dass es zwar vor Gott eine Gleichberechtigung von Mann und Frau gebe, aber nur der Mann bei Entscheidungen das letzte Wort habe. Er begründete seine Aussage damit, dass Gott dem Mann die Hauptverantwortung für die Frau und die Familie gegeben habe, weil die Frau physisch und psychisch schwächer als der Mann sei und wegen vielerlei Gefahren männlichen Schutz brauche. Dieses Interview löste eine Welle der Empörung aus, so dass der Vorsitzende im Nachgang seine Aussagen relativierte.

Dina El Omari richtet sich in ihrer Habilitationsschrift genau gegen diese patriarchale Deutung von Geschlechterrollen, weil sie im Endeffekt nicht dem exegetischen Befund entsprechen und von einer ahistorischen Lesart des Korans ausgehen. Die Wissenschaftlerin entfaltet in ihrem Buch die These, dass im Koran eine „Bewegungsbahn“ (620) existiert, die ab der mittelmekkanischen Phase der Offenbarung zu einer immer gleichberechtigteren Stellung von Mann und Frau führt, und es schließlich in medinensischen Suren keinen Unterschied mehr zwischen den Geschlechtern gibt. Diese Bewegung veranschaulicht sie an ausgewählten Suren aus den jeweiligen Offenbarungsphasen.

Im Rekurs auf Angelika Neuwirth verortet Dina El Omari den Koran in den spätantiken Kontext, der in den letzten Jahren eine historische Umdeutung als hochgenerative Epoche erfahren hat – und nicht mehr als eine vom antiken Ideal abgefallene und damit verbunden als Untergangsgeschichte angesehen wird. Die Spätantike ist für Angelika Neuwirth – beginnend mit dem Christentum über die Entstehung des rabbinischen Judentums bis hin zur Genese des Islams – eine überaus religionsproduktive Zeit, die starke emanzipatorische Tendenzen hat, die sich in den Schriften der drei Weltreligionen (Bibel, Talmud und Koran) niederschlug. Von daher rekurriert Dina El Omari auf christliche und vor allem jüdische Kontexte, die im Koran einen Widerhall gefunden haben. Gerade in der Midrasch-Literatur zeigen sich Neuformationen von Geschlechterrollen, die im Koran weiterentwickelt werden.

Weitere Bezugspunkte sind als hermeneutische Basis der philosophische Ansatz von Paul Ricoeur, den Dina El Omari für die Exegese des Korans fruchtbar macht. Gerade seine Theorie des Spannungsbogens von Entfremdung (der historische Kontext des Korans ist nicht der der Gegenwart) und Aneignung (die Aussagen des Korans wollen noch heute existenziell einen Sitz im Leben der Menschen finden) und die Vermittlung von beidem ist für die Auslegung sehr hilfreich. Von daher greift die Autorin in ihren Exegesen auf einen Kanon von fünf anerkannten Koran-Kommentatoren aus der geschichtlichen Tradition zurück (vom 10. bis 14. Jahrhundert) und kontrastiert ihre Aussagen mit den Ergebnissen moderner literaturwissenschaftlicher Zugänge. Weiterhin rekurriert sie als hermeneutischen Schlüssel auf das Konzept der Barmherzigkeit des islamischen Theologen Mouhanad Khorchide, das als Gottes Wesenseigenschaft in der gesamten Textwelt des Korans greifbar ist und deshalb auch seine Aussagen über die Geschlechterrollen einschließt.

Dina El Omari kann in ihrer sehr detaillierten Exegese ihre These von der emanzipatorischen „Bewegungsbahn“ im Koran zu einer gleichberechtigten Stellung der Geschlechter sehr gut belegen. Gleichzeitig räumt sie mit Mythen auf, die unreflektiert in den Medien wie in salafistischen und djihadistischen Diskursen gepflegt werden, wie z.B. der stark patriarchal-sexualisierte Blick auf die sogenannten Paradiesjungfrauen (huris). Zugleich kann sie anhand historischer Beispiele zeigen, dass es in der ersten muslimischen Gemeinde in Medina Frauen gab, die selbstbewusst den Propheten kritisierten, und sich dieser daraufhin korrigierte oder diese Kritik sogar zu Offenbarungsanlässen wurde. Dina El Omari verweist auf die Diskrepanz zwischen den idealen Aussagen des Korans zur Gleichberechtigung der Geschlechter und der konkreten historischen Wirklichkeit von Frauen in einer von Männern bestimmten Welt hin. Von daher ist auch heute noch der koranische und damit göttliche Anspruch der Parität von Mann und Frau in vielen Gesellschaften nicht Realität und muss immer wieder eingefordert werden.

Dina El Omari hat in ihrer voluminösen Habilitationsschrift eine äußerst interessante Studie vorgelegt, die sehr innovativ zeigt, dass hierarchische Geschlechterrollenmuster, die eine Unterordnung der Frau unter männlicher Dominanz propagiert, nicht vom Koran gedeckt sind und deshalb nicht als gottgewollt qualifiziert werden dürfen. Ganz im Gegenteil sind Frauen und Männer vor Gott gleich. Die Autorin selbst macht darauf aufmerksam, dass dieses Buch der erste Schritt für weitere intensivere Forschungen sei. Man kann sie dahingehend nur ermuntern, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen.

Zum Schluss noch eine kritische Anmerkung, die nicht die Autorin, sondern den Herder Verlag betrifft. Es zeigt sich immer mehr, dass selbst ein renommierter Verlag wie Herder es an Gewissenhaftigkeit im Lektorat fehlen lässt. So hätten Fehler, die während der Lektüre stark auffallen, korrigiert werden können. Der hohe Preis des Buches hätte mehr Sorgfalt zur Folge haben müssen.

Versuch einer historisch-literaturwissenschaftlichen Korankommentierung
Die islamische Theologie im Aufbruch 2
Freiburg: Herder Verlag. 2021
636 Seiten
80,00 €
ISBN 978-3-451-03376-6

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