Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Eberhard Schockenhoff: Kein Ende der Gewalt? Friedensethik für eine globalisierte Welt

Ein Schwergewicht von einem Buch hat der Freiburger Moraltheologe Eberhard Schockenhoff mit seinem aktuellen Kompendium zur Friedensethik vorgelegt – und dies im wahrsten Sinne des Wortes: Auf gut 5 ½ Pfund Papier kommt sein neuestes Werk daher; etwa 6 cm Breite werden dafür im Bücherregal benötigt. Klotzen, nicht kleckern – so lautet die Devise des Autors, und das in jeder Hinsicht. Auf 759 Seiten fasst er – den Bogen von der Antike bis in die Gegenwart spannend – den Forschungsstand einer Disziplin zusammen, die erst seit geraumer Zeit wieder Fahrt aufnimmt, nachdem sich unter den Vorzeichen einer neuen Machtpolitik die Weltfriedenshoffnungen der 1990er Jahre endgültig zerschlagen haben. Dabei kommen weder historische, exegetische, theologiegeschichtliche, ethische noch gegenwartsbezogene Aspekte zu kurz. In jedem Fall enthält das Buch (wieder einmal) Stoff für mehr als ein Semester und belegt eindrucksvoll sowohl die akademische Brillanz seines Autors wie auch dessen kongeniales Vermögen, eine schier unübersichtliche Fülle an Literatur systematisch zusammenzufassen und sprachlich gekonnt auf den Punkt zu bringen. Zwar räumt Schockenhoff in seinem Vorwort durchaus ein, wie „weit verzweigt die Fragestellungen aus vielen Einzelwissenschaften, insbesondere aus der Geschichtswissenschaft, der (historischen) Friedensforschung, der Theorie der internationalen Politik, der Nationalökonomie und der Völkerrechtswissenschaft sind“ (5), mutet aber seinen Leserinnen und Lesern genau dieses thematische Füllhorn zu. Sach- und fachkundig nimmt er sie an der Hand, um in vier großen Themenkreisen durch mehr als 2500 Jahre Kriegs- und Nachkriegsreflexion über die (Un)Möglichkeit des Friedens zu führen.

Neben einem geschichtlichen Überblick (I. Teil: Kriegserfahrungen und Friedenshoffnungen von der Antike bis zu Gegenwart) bildet die Lehre vom gerechten Krieg (II. Teil) den mit rund 300 Buchseiten auch quantitativen Schwerpunkt des Buches. Ihren Zusammenbruch proklamiert der Verfasser angesichts der Totalität der Kriegsführung des 20. Jahrhunderts, welche ihrerseits in einen die Welt lähmenden Zustand der Rüstungsspirale mündete. Geradezu heilsam lenkt er von diesem Nullpunkt aus den Blick auf die biblische Friedenshoffnung (III. Teil), die somit als Ouvertüre für die „Systematische Entfaltung der Friedensethik“ (IV. Teil) dient. In deren Zentrum stehen in geradezu prophetischer Diktion die „Säulen eines gerechten Friedens“ (Kap. 3), auf denen eine tragfähige internationale Friedensordnung fußen soll: Wahrung der Menschenrechte – Förderung von Rechtstaatlichkeit und Demokratie – freier Welthandel – Fortentwicklung überstaatlicher Strukturen. All dies knüpft eng an die Grundsätze der päpstlichen Lehrverkündigung des 20. Jahrhunderts an und lässt sich insbesondere aus der Enzyklika Pacem in terris des Konzilpapstes Johannes XIII. heraus entwickeln. Aufschlussreich ist dieser Teil der Darstellung eher deshalb, weil Schockenhoff die kirchliche Soziallehre hier in philosophische, ökonomische, soziologische und politologische Diskurse einordnet und ihr dadurch ein (noch) größeres Gewicht verleiht.

Besonders wohltuend ist in diesem Abschnitt aber auch das zweite Kapitel, das aus der Sicht des moraltheologisch geschulten Lesers gerne mehr Aufmerksamkeit verdient hätte, als nur das Prélude zu einer genügend bekannten sozialethischen Entfaltung zu sein. Hier geht es um den anthropologischen Grundkonflikt, der an der Wurzel der Friedensethik überhaupt steht: der Mensch zwischen Gewaltbereitschaft und Friedensfähigkeit. Die Entscheidung dieses Konfliktes sei maßgeblich dafür, ob ein gerechter Friede überhaupt für möglich erachtet werden könne. Die christliche Erbsündenlehre vor dem Hintergrund psychologisch-kulturwissenschaftlicher Erkenntnisse aktualisierend ausdeutend sieht der Verfasser diese Möglichkeit dann als gegeben, wenn „der Mensch eine aktive, mühevolle Anstrengung [unternehme], um die Gegenkräfte des Guten zu mobilisieren“ (548). Unter der Voraussetzung einer solchermaßen zu persönlichem Einsatz herausgeforderten Freiheit seien es die klassischen (christlichen) Tugenden, die – „als Gegenstrategien der Liebe gegen den Hass“ – den Frieden unter den Menschen herbeizuführen vermöchten. Diese sind es wert, hier eigens einmal genannt zu werden: Toleranz, Gewaltfreiheit, Dialog- und Kompromissfähigkeit, Zivilcourage, Opferbereitschaft, Entschlossenheit; Geduld und Versöhnungsbereitschaft. Gerade letztere vermöge es, „auf dem Höhepunkt eines Konflikts, wenn beide Seiten sich in ihren Sackgassen zu verrennen drohen, seine Auflösung zu antizipieren, indem sie den ersten Schritt auf den anderen zugeht und Versöhnung anbietet.“ (576) Dies sei, so Schockenhoff, „die wirksamste Vorübung für den Frieden“ (577).

Die letzten 70 Seiten führen den Leser wieder auf den harten Boden der weltpolitischen Realität zurück, indem sie neue Herausforderungen für die Friedensethik benennen. Womöglich versucht der Verfasser dadurch dem Titel seines Werkes gerecht zu werden, das sich ja ausdrücklich an die „globalisierte Welt“ des 21. Jahrhunderts richtet. Obwohl wichtige Themen der gegenwärtigen und zukunftsnahen Diskussion über die Bedingungen eines gerechten Weltfriedens angesprochen werden – humanitäre Intervention, Terrorismusbekämpfung, targeted killing, autonome Waffensysteme, Cyber-Kriege –, vermag gerade dieser Abschnitt im Hinblick auf das sonstige Potenzial des Buches wenig zu überzeugen und endet ebenso abrupt, wie das ganze Werk einsetzt: mit dem Krieg als Ausgangs- und Endpunkt des Nachdenkens über den Frieden. Hier hätte man sich ein originelleres und optimistischeres Fazit gewünscht, das die Sprengkraft der christlichen Friedensbotschaft noch einmal aufgreift und der ohnmächtigen Gewalt die Übermacht der Liebe entgegenstellt: „die einzige dynamische Kraft, die imstande ist, die Geschichte zum Guten und zum Frieden voranschreiten zu lassen“ (Johannes Paul II. in seiner Botschaft zum Weltfriedenstag 2005).

In großem Respekt vor der geradezu enzyklopädischen Leistung des Autors mag das Werk all denen empfohlen sein, die einen kenntnisreichen, sich gelegentlich in akademischen Formulierungen verästelnden Überblick über den aktuellen Stand der friedensethischen Diskussion erwarten. Durch die systematisch dargelegte Entwicklung des Friedensgedankens unter Einbeziehung sämtlicher relevanter Autoren und Beiträge mag das Buch mit Fug und Recht als neues „Standardwerk“ der Friedensethik gelten. Wenn man in Kauf nimmt, dass es an innovativen, inspirierenden Ideen über weite Strecken mangelt, wird man von seiner Lektüre in jeder Hinsicht profitieren: allgemeinbildend ist sie allemal. Insbesondere denen, die in Lehre und Unterricht auf ein fundiertes Grundlagen- und Hintergrundwissen nicht verzichten wollen, sei das Buch ans Herz gelegt, ohne vor der Fülle des Stoffes zurückschrecken zu müssen: Es lässt sich durchaus auch auszugsweise lesen!

Freiburg: Herder Verlag. 2018
759 Seiten
58,00 €
ISBN 978-3-451-37812-6

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