Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Elsbeth Wiemann: Der Herrenberger Altar von Jerg Ratgeb

Mit mittelalterlichen Altären tun wir uns schwer. Obwohl theologisch hoch aufgeladen, sind sie Forschungsgegenstand der Kunstgeschichte, selten der Theologie. Auch dem gebildeten Laien fällt der Zugang nicht leicht. Schon räumlich, weil vorkonziliare Altäre fernab vom Kirchenbesucher im Chorraum stehen, ihr Reichtum an Bildern und Symbolen geduldiges Sehen erfordert und die Kenntnis der biblischen Geschichten auch unter Christen rar geworden ist. Deshalb greift man gerne zu der vorliegenden Veröffentlichung der Staatsgalerie Stuttgart, die anlässlich der Neupräsentation des Altars von der Leiterin der Abteilungen für Altdeutsche und Niederländische Malerei Elsbeth Wiemann verantwortet wird.

Der Altar gilt als ein Meisterwerk schwäbischer Malerei aus der Zeit der Reformation und der Bauernkriege. Über seinen Schöpfer Jerg Ratgeb weiß man wenig, außer dass er zwischen 1480 und 1485 in Schwäbisch Gmünd oder Stuttgart geboren wurde, mit Freskenarbeiten im Frankfurter Kameliterkloster betraut war, dort mit den zeitgenössischen Tendenzen italienischer, holländischer und deutscher Kunst bekannt wurde, im schwäbischen Bauernkrieg auf Seiten der Bauern eine führende Rolle spielte und deshalb wegen Hochverrats verurteilt und 1526 auf dem Marktplatz von Pforzheim hingerichtet wurde.

Auftraggeber des monumentalen Altars waren die Herrenberger Fraterherren, eine aus der Devotio moderna hervorgegangene Priestergemeinschaft, die, ohne die mönchischen Gelübde abzulegen, eine intensive persönliche Frömmigkeit pflegte. Sie gab 1517 den Altar in Auftrag und dürfte auch das theologische Programm bestimmt haben, das der Meditation der Kleriker, nicht der Erbauung einer Gemeinde diente. Nach der Einführung der Reformation in Württemberg (1534) verlor der Altar seine liturgische Funktion, gelangte durch Kauf 1862 in Staatsbesitz und 1924 in die Sammlungen der Staatsgalerie Stuttgart.

In geöffnetem Zustand zeigt der Altar auf vier monumentalen Tafeln Abendmahl, Geißelung, Kreuzigung und Auferstehung Christi, auf den Rückseiten die Verlobung Mariens, die Beschneidung Christi und die Aussendung der Apostel. Diesen dominierenden Hauptszenen werden in Simultantechnik und in wechselnden Maßstäben zahlreiche weitere Motive aus der Passionsgeschichte und dem Marienleben zugeordnet. Metaphorische Details, Tiersymbole und biblische Zitate, die die Szenen typologisch ausdeuten, eröffnen weitere Tiefendimensionen und geben dem frommen Betrachter Raum für meditative Assoziationen. Den Kunstfreund beeindruckt der Herrenberger Altar durch die Raffinesse des Bildaufbaus, die Phantastik seiner Architekturen und vor allem durch den harten Realismus, mit dem der Künstler die Personen zeichnet.

Die Verfasserin Elsbeth Wiemann erweist sich als eine zuverlässige und angenehme Führerin, die mit kunsthistorischer und theologischer Sachkenntnis dem interessierten Laien die religiöse Vorstellungswelt dieses Altares erschließt. Dabei hält sie sich fern von Spekulationen, zu denen die Lücken in der Biografie des Künstlers Anlass bieten, wie auch von sozial-politischen Deutungen, zu denen die Verstrickungen Ratgebs im Bauernkrieg verführen können. Alles in Allem: eine freundliche Einladung zu einem Besuch in der Staatsgalerie Stuttgart.

Für den Theologen können diese und ähnliche Veröffentlichungen ein Anlass sein, die christliche Altarkunst neu zu entdecken. Denn sie ist eine Äußerungsform des Glaubens, in der sich Religion und Ästhetik verschwistern. Und vielleicht brauchen auch wir Christen wieder den staunenden Blick des iranisch-deutschen Schriftstellers Navid Kermani auf die christliche Bildwelt, um erneut die Zumutungen und die Schönheit des christlichen Glaubens entdecken.

 

München: Hirmer Verlag. 2013

72 Seiten m. farb. Abb.

19,90 €

ISBN 978-3-7774-2113-1

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