Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) (Hg.): Sünde, Schuld und Vergebung aus Sicht der evangelischen Anthropologie

Das Sündersein jedes Menschen ist wohl die anstößigste Botschaft des Christentums. Gottes Liebe wird gerne verkündigt und gehört, aber selbst als Sünder dastehen zu sollen, erscheint in unserer modernen Gesellschaft wie ein archaisches Ansinnen, das alte Opfervorstellungen und Bußriten hervorruft. Dagegen hält man es besser mit dem realistischen gegenseitigen Zugeständnis, dass jeder neben seinen Stärken auch Fehler und Schwächen habe. Diese entspannte Ansicht verflüchtigt sich aber bekanntermaßen schnell, wenn man die Fehler der anderen genauer in den Blick nimmt. Da heißt es, den Finger in die Wunde zu legen, vor der der andere die Augen verschließen will. Überhaupt hat unsere Mediengesellschaft das Richteramt auf ungeahnte Weise demokratisiert und jeder ist befugt und fühlt sich befähigt, über alles und jeden auch ohne genauere Kenntnis zu richten – und ihm das Urteil mit einem Wisch oder Tastendruck zuzustellen. Barmherzigkeit oder ein Zuspruch von Vergebung werden sich dagegen selten finden.

Das angezeigte Buch des Rates der EKD weist zu Recht auf das schon Anfang der achtziger Jahre geäußerte Wort des Philosophen Odo Marquard von der „Übertribunalisierung der menschlichen Lebenswirklichkeit“ hin, die sicher in Wechselwirkung zu der verflüchtigten oder verharmlosten Rede von der Sünde steht (31). Sünde, Schuld und Vergebung werden in ihrer Bedeutung von den Mitgliedern der Kammer für Theologie der EKD ausgehend von der evangelischen Tradition für die gegenwärtige Situation ausgelegt. Das gelingt in insgesamt überzeugender Weise. Einerseits wird unter „Biblische Konstellationen“ an wichtige Texte von Genesis 1 bis Römer 7 erinnert, andererseits nimmt der Grundlagentext bei der Beschreibung von „Orten der Erfahrung von Schuld und Vergebung“ mit den Themen von sexualisierter Gewalt, Erinnerungskultur und Verantwortung der Medien aktuelle Brennpunkte in den Blick. Dabei bleibt die Kirche als Täter und Schuldige nicht ausgespart.

Die Annäherung an das Thema ist geglückt, besonders wenn die Rede von Sünde, Schuld und Vergebung im Gottesdienst verankert und auf das Abendmahl hingewiesen wird. Das Kapitel über den sich verfehlenden Menschen vermag viele wichtige Aspekte der Sündenlehre aufzunehmen, auch wenn die Darlegung der menschlichen Freiheit in ihrer Ambivalenz etwas unklar bleibt. Die Überschrift „Sünde als Angst in der Freiheit“ wirft die schwierige Frage auf, ob Angst Sünde ist. Der im Hintergrund stehende Rekurs auf Paul Tillich und Søren Kierkegaard trägt die Probleme ihrer Konzeptionen bzw. deren Interpretationen in den Text hinein.

Vielleicht hätte man im Ganzen noch stärker die Ausweglosigkeit von Sünde und den Zusammenhang von Sünde und Tod betonen können. Dass Hochmut, Gier, sexualisierte Gewalt etc. zu verurteilen sind, wird Zustimmung von Christen und Nichtchristen finden. Aber dass nur in Tod und Auferstehung Christi und nicht in den zweifellos unverzichtbaren gesellschaftlichen und individuellen Mitteln wie Rechtsprechung, Erziehung, Therapie oder Mitmenschlichkeit das wahre Heil für den schuldig werdenden Menschen liegt, ist die christliche Zumutung.

Dass das christliche Heilsereignis in diesem Text nicht weiter entfaltet wird, liegt daran, dass er sich als Fortsetzung des 2018 erschienenen Grundlagentextes „Für uns gestorben. Die Bedeutung des Todes Jesu“ versteht. Doch wäre eine noch stärkere explizite Verklammerung beider Texte meines Ermessens sinnvoll gewesen, selbst wenn man Wiederholungen hätte in Kauf nehmen müssen. Nur im Lichte der Heilstat Christi sind die Sünde und ihre göttliche Vergebung in ihrer Tiefe zu ermessen.

Doch kann kein Zweifel daran bestehen, dass diese Auffassung den Text bestimmt hat und an verschiedenen Stellen betont wird. So ist das Büchlein eine gute Orientierung für jemanden, der gerne wissen will, was man aus evangelischer und überhaupt christlicher Sicht unter Sünde, Schuld und Vergebung versteht. Es eignet sich auch für „Menschen außerhalb der Kirche, die bereit sind, einen Blick in die unaufgeräumten Ecken menschlichen Lebens zu werfen“ (8). Wer zu dem Thema etwas Handliches zum Nachdenken sucht, ohne sich in größere dogmatische Zusammenhänge einarbeiten zu wollen, dem ist dieses Bändchen zu empfehlen. Der Text steht auch online kostenlos zur Verfügung (https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/suende_schuld_EVA_2020.pdf; Zugriff am 11.03.2021).

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt. 2020
131 Seiten
8,00 €
ISBN 978-3-374-06743-5

Zurück