Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Evy Billermann / Juliana Heidenreich: Ich geh mit dir durchs Trauerland

Das bemerkenswerte Bilderbuch „Ich geh mit dir durchs Trauerland“ geht mutig und sensibel an ein schwieriges Thema, es beschreibt nämlich die ersten Tage eines Kindes nach dem kaum zu fassenden unerwarteten Tod seines Vaters. Wenn in einer Familie der Vater oder die Mutter stirbt, dann gehören die Kinder oft zu der am stärksten benachteiligten Gruppe, denn das überlebende Elternteil ist ja selbst sehr mit seiner eigenen Trauer beschäftigt und kann kaum Trost spenden. Nicht selten fühlt sich das Kind ganz allein und hilflos mit seinem Verlust und kann sogar in die Rolle des Tröstenden geraten.

Evy Billermann, Sterbe- und Trauerbegleiterin in einem Hospiz, nimmt diese Einsamkeit in der Trauer ernst und stellt dem trauernden Kind im Buch eine verlässliche Freundin an die Seite, die sich mitfühlend, ganz offen und auch neugierig auf den Weg der Trauer ihres Freundes einlässt. In der einfachen und klaren Sprache, die nur das Nötigste sagt, bleibt viel Raum für die Gedanken des Betrachters. Juliana Heidenreich bringt mit ihren detailreichen und berührenden Illustrationen den Text dann richtig zum Sprechen und lädt zu intensiver Betrachtung ein. Die Künstlerin Heidenreich ist im kirchlichen Kontext schon bekannt geworden etwa durch ihre Illustration der „Gütersloher Erzählbibel“ (2004).

Das Bilderbuch geleitet uns durch die Trauerphasen des Jungen Tom, dessen Vater für ihn unerwartet gestorben ist. Sein Weg durch das Land der Trauer gestaltet sich von der anfänglichen Erstarrung und Hilflosigkeit über die beginnende Suche nach dem Vater, im Buch als ein innerer Weg durch verschiedene Länder dargestellt, bis hin zu einer liebevollen, lebendigen und wärmenden Erinnerung, in der Tom die bleibende Beziehung zu seinem Vater schließlich findet. Die meiste Zeit weicht Klara, ein Pippi-Langstrumpf-Typ, nicht von seiner Seite, nimmt seine Perspektive ein, lässt sich betreffen. Bildlich wird dies etwa durch die Blicke inszeniert. Manchmal schauen beide in die gleiche Richtung, manchmal schaut Tom verloren in die Ferne, während Klara ihn ansieht, ihn wirklich sieht. In der Farbgebung ist Tom am Anfang eher grau gestaltet, Klara hingegen ist bunt, lebenszugewandt. So verhilft sie Tom langsam aus seinem Grau in Grau heraus zu einer lebendigen Trauer.

Die lebenszugewandte, fröhliche Grundhaltung Klaras eröffnet das Bilderbuch. Klara wartet auf ihren Freund, hat alles für eine gute gemeinsame Zeit vorbereitet, aber Tom kommt nicht. In diese bunte, kindliche Welt bricht auf der nächsten Seite der Tod ein, der alles grau macht. Klara sieht, wie Toms Vater von einem Beerdigungsinstitut abgeholt wird. Kontrastierend steht auf der einen Seite Klara in ihrem bunten Garten und auf der anderen Seite sehen wir Tom mit seiner Mutter; nahezu alles ist grau-schwarz getönt, die Mutter greift fast hilfesuchend nach ihrem Sohn. Folgerichtig steht Tom dann verlassen im grauen Raum seiner Einsamkeit, während die Menge der Kondolenzbesucher gesichtslos um ihn herum wogt. Seine Bewegungslosigkeit, ja Nacktheit wird noch dadurch betont, dass er in Socken ist – nur ein Schal, der „Papaschal“, wie der Leser später erfährt, hängt aus seiner Hosentasche.

„‚Papa ist tot‘, sagt Tom. ‚Plötzlich ist alles dunkel‘. Das spürt auch Klara“. An diesem Tiefpunkt für Tom, in seiner ganzen Verlassenheit vollzieht sich der entscheidende Wendepunkt für das Geschehen, denn „Klara nimmt Tom an der Hand“. In diesem schlichten Satz bietet sie ihm Gemeinschaft, Nähe und Mitgefühl, das Einzige, was Tom jetzt braucht, und führt ihn zu einem abgeschiedenen Platz in der hintersten Ecke des Gartens, denn Trauer braucht Ruhe und Zeit. Dieser Ort ist bildlich gestaltet wie eine Höhle, „es fühlt sich so an, als säßen sie in einem großen, schwarzen Loch“; der Theologe fühlt sich an die Zeit der Reifung Jonas im Bauch des Riesenfisches erinnert.

Hier an diesem Ort kann sich dann auch die Frage nach dem Tod stellen. Was ist Tod? „Irgendwie weg, fort, für immer?“ Die Suchbewegung als Trauerphase beginnt. Wo und wie ist der Vater zu finden? Losgelöst als Stern im Sternenland, etwas schemenhaft als Traumgesicht im Traumland oder zwischen Auf- und Niedergang der Sonne immer wieder im Immerland? Der Illustratorin Heidenreich ist es hier durch die Verwendung verschiedenster Techniken (Aquarellmalerei, Collagen, Comic) sehr ansprechend gelungen, das Rätselhafte der Suchbewegung herauszustellen und viel Raum für ein Gespräch zu geben. Und passend kann Tom nun sagen: „Ich bin traurig“, „ich hab Angst“; er ist also nicht mehr erstarrt, sondern kommt langsam ins Spüren seiner schmerzhaften Gefühle. Klaras feste Zusage an diesem Punkt – „Tom, ich geh mit dir durchs Trauerland! …Versprochen!“ – verbunden mit dem zuversichtlichen Bild der Weggemeinschaft, erinnert implizit an die Zusage Jesu: „Ich bin bei euch alle Tage“. So sind die beiden gemeinsam „traurig, stark, mutig – bereit für die Reise durchs Trauerland“.

Dass diese Reise nun nicht leicht und einfach dargestellt wird, sondern als ein Ringen zwischen Trauer und Bewältigung, ist ein starkes Element des Bilderbuches; der Leser und Betrachter wird durch die Klarheit des Textes und die Intensität der Bilder hineingenommen in die schwankenden Gefühle Toms und Klaras Lösungsbemühungen. So gibt sie ihm als „Trauerbegleiterin“ eine Taschenlampe gegen das Dunkel und Papas Schal gegen die Kälte. Beide bilden für Tom eine Art von Übergangsobjekten, so dass er lernt, durch seine Trauer zu gehen und seine Gefühle zu durchleben. Die das Dunkel ausleuchtende Taschenlampe ermöglicht einen Zugang zum Licht des Vaters. Besonders aber dem Schal kommt im ganzen Buch eine besondere Rolle zu. Hängt oder liegt er anfangs noch etwas unbeachtet in der Nähe Toms herum, so entwickelt er sich mit der Zeit zu einer Art bleibenden wärmenden Präsenz des Vaters. Die Illustratorin hat ihn zum Schluss des Buches sogar als alles bergenden Rahmen der Geschichte gestaltet.

Der Text beschreibt mit den jeweils im positiven Sinne fragwürdig bleibenden Motiven Sternenland, Traumland und Immerland und dem anschließenden schmerzhaften Weg der Suche und Integration des verstorbenen Vaters anschaulich einen kindlichen Weg der Trauerarbeit, der weltanschaulich offen ist. Die Bilder verlieren ihre Leichtigkeit nie und sind zugleich nie oberflächlich. Die unterschiedlichen Darstellungstechniken unterstreichen die oft fließenden Übergänge zwischen äußeren und inneren Bildern.

Durch das Stilmittel, eine kindliche Trauerbegleiterin einzuführen, wird es möglich, der Trauer eines Kindes auf Augenhöhe zu begegnen und keine vorgefertigten Antworten zu präsentieren. Tom wird ganz ernst genommen – sein Trauerland ist wirklich ein Kindertrauerland. Klara gibt Tom keine Antworten, sondern sie setzt dort an, wo echter Trost beginnt, bei Zugewandtheit und Mitgefühl. Die gelungene bildliche Gestaltung nimmt auch den Leser in diese Stimmung hinein.

Die weltanschauliche Offenheit dieses Kinderbuches, die textliche Skizze eines kindlichen Trauerweges und die vorzüglichen, kindgemäßen Illustrationen machen es zum guten Ansatzpunkt, um mit Kindern in der Grundschule dem Thema Tod nachzuspüren. Zugleich kann es einen Ermöglichungshorizont bilden, um über die eigenen Glaubensvorstellungen zu reden. Und dies gilt sowohl für monotheistisch wie auch atheistisch orientierte Erwachsenenstandpunkte.

Hörstel: Verlag Agentur Altepost. 2021
Ohne Seitenangabe [40 Seiten], farbig illustriert
14,95 €
ISBN 978-3-9822428-3-5

Zurück