Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Gemeinsame Deutsch-Polnische Schulbuchkommission (Hg.): EUROPA. Unsere Geschichte

Dass Geschichtsbücher nicht nur einen zentralen Bestandteil der materialen Kultur von historischer Bildung, sondern zugleich einen konstituierenden Faktor des modernen Geschichtsunterrichts ausmachen, darin besteht allgemeiner Konsens. Uneinigkeit hingegen herrscht in der Konzeption von Geschichtsbüchern, insbesondere in Bezug auf die Frage nach einer nationalen oder transnationalen Schwerpunktsetzung.

Mit dem letzten Band der vierteiligen Lehrwerksreihe „Europa – Unsere Geschichte“ erscheint ein Geschichtsbuch für die Mittelstufe, das sich inhaltlich von einer rein germanozentrischen Betrachtung der Geschichte löst und sich stattdessen an einer supranationalen Geschichtsschreibung orientiert. Wollen wir unsere Schülerinnen und Schüler zu mündigen Bürgern Europas erziehen, bietet sich ein solcher Geschichtsunterricht an, der das Augenmerk auf eine komparative Betrachtung übergreifender Narrative verschiedener Länder legt. Im Vergleich zu dem von Frederic Delouche im Jahre 2018 herausgegebenen Lehrwerk „Das europäische Geschichtsbuch: Von den Anfängen bis ins 21. Jahrhundert“ überzeugt der hier vorliegende Band durch das kaleidoskopartige Erzählen und Kontrastieren europäischer Narrative mit besonderem Fokus auf die deutsch-polnische Geschichte. Vergleichende Momente bilden etwa das Gegenüberstellen der ersten deutschen mit der zweiten polnischen Republik oder der Vergleich der Widerstandsbewegungen im Zweiten Weltkrieg. Aufgrund des modularen Aufbaus der einzelnen Unterkapitel mussten die Autoren selbstredend didaktische Schwerpunkte setzen, was unweigerlich zu inhaltlichen Kürzungen führt. So wird mit Blick auf die Gräueltaten im Zweiten Weltkrieg beispielsweise nur der Holocaust thematisiert, wohingegen die Ermordung von Sinti und Roma, Homosexuellen etc. unerwähnt bleiben.

In sieben chronologisch angeordneten Kapiteln gelingt den Autoren eine transnationale Darstellung der europäischen Geschichte, ausgehend vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zur Entwicklung Europas im 21. Jahrhundert. Die jedem Kapitel vorgeschalteten Einstiegs-Doppelseiten dienen der historischen Orientierung sowie dem Aufwerfen historischer Problemfragen, womit das Geschichtsbuch dem geschichtsdidaktischen Prinzip der Problemorientierung in vollem Maße Rechnung trägt. Obschon auch dieses Geschichtsbuch einer chronologischen Konzeption folgt, so liegt der inhaltliche Schwerpunkt jedes Kapitels auf einer vergleichenden Betrachtung von historischen Ereignissen und Strukturen. So wird beispielsweise in Kapitel 2 nach gemeinsamen, multikausalen Ursachen für den aufkommenden Faschismus in Europa zwischen den beiden Weltkriegen gefragt, während in Kapitel 4 der Einfluss der USA sowie der UdSSR auf die jeweiligen europäischen Länder beleuchtet wird. Auf diese Weise bietet das Schulbuch zahlreiche Möglichkeiten des Perspektivwechsels. Am Ende jedes Kapitels haben Lernende die Möglichkeit, ihr zuvor erworbenes Sachwissen mit sogenannten Kompetenztests zu überprüfen und zu festigen, etwa in Form von Lückentexten, Zuordnungsaufgaben und Quelleninterpretationen.

Alles in allem kommt das Buch dem bildungspolitischen Auftrag der Ausbildung einer Demokratiekompetenz sowie des Erwerbs historischer Fachmethoden und Arbeitstechniken nach, die zur kritischen Bewusstseinsbildung anregen. Abgerundet wird das Lernangebot durch Exkursboxen wie „Vergangenheit in der Gegenwart“ und „Blickwinkel“, in denen Erinnerungsorte und Elemente der Erinnerungskultur in Deutschland und Polen thematisiert werden. Auf diesen Seiten lernen Schülerinnen und Schüler beispielsweise historisch bedeutsame Orte wie Kreisau kennen oder vergleichen die Erinnerung an den deutschen und polnischen Widerstand. Trotz dieser gelungenen Versuche, geschichtskulturelle Sinnbildungsangebote zu schaffen, kommt die alltagsweltliche Präsenz von Geschichte in diesem Schulbuch zu kurz. Wünschenswert wäre beispielsweise das Thematisieren des Umgangs europäischer Nationen mit den Kriegserfahrungen in der Erinnerungskultur gewesen.

Bemerkenswert ist die sehr abwechslungsreiche und ansprechende Auswahl an Primär- und Sekundärmaterial. Allen voran ist die beeindruckende und differenzierte Auswahl an Dokumenten und Karikaturen, Fotografien und Karten zu nennen, die zu einem großen Teil erstmalig in einem Schulbuch aufbereitet wurden. Sämtlichen Quellen sind kurze Einleitungstexte vorangestellt, die das Verständnis der Quellen erleichtern sollen. Großflächig abgebildete Karten bieten an vielen Stellen geographische Orientierung. Insgesamt zeugt die Materialauswahl von einer intensiven Forschungs- und Archivarbeit und einem gut durchdachten historisch-didaktischen Konzept. So werden Forschungsdesiderate und bislang wenig behandelte Themenkomplexe thematisiert, Beispiele sind die „Säuberungsaktionen Stalins“ oder die Kollaborationen Frankreichs im Zweiten Weltkrieg. Im Vergleich zu anderen Geschichtsbüchern überzeugt die Quellenauswahl nicht nur durch ihre Varianz, so werden unter anderem politische Witze oder Gedichtauszüge als historische Quellen genutzt, sondern auch durch die durchweg konsequente transnationale Auswahl: Japanische Propagandaplakate, Berichte von Überlebenden des Holocaust, polnische Rundfunkbeiträge oder Zeitzeugenberichte französischer Diplomaten zeugen von der supranationalen Konzeption dieses Lehrwerks. Kritisch angemerkt werden sollte, dass Quellen vereinzelt zu stark gekürzt wurden. Da das vorliegende Geschichtsbuch in der 10. Klasse zum Einsatz kommt und somit der Vorbereitung auf die Oberstufe dient, sollten Schülerinnen und Schüler zunehmend mit ungekürzten Quellen konfrontiert werden. Überdies sorgt die stellenweise zu umfassend vorgenommene Kürzung zu inhaltlichen Lücken, die mithilfe der Verfassertexte nicht zu schließen sind und zusätzliche Recherche erforderlich machen.

Sämtliche Arbeitsaufträge sind größtenteils auf das Quellenmaterial sowie die Verfassertexte abgestimmt. Darüber hinaus sind alle Arbeitsaufträge operationalisiert, gestuft und decken alle drei Anforderungsbereiche ab. Besonderes Augenmerk liegt auf der Bildung von Sach- und Werturteilen, so dass vorrangig das kognitiv-analytische und multiperspektivische Denken der Schülerinnen und Schüler konkretisiert werden soll. Handlungsorientierte Ansätze in Form einer Erstellung von Lernprodukten (z.B. die Erstellung von Zeitungsartikeln, Museumstafeln, Podcasts oder das Durchführen von historischen Debatten) bleiben indes weitestgehend unberücksichtigt. Vereinzelt kurz gehaltene Verfassertexte erschweren stellenweise – ähnlich wie bei den Quellen – eine ausführliche Beantwortung der Arbeitsaufträge.

Abschließend lässt sich konstatieren, dass der konsequent angedachte und umgesetzte multiperspektivische Zugang und Umgang mit Geschichte Schülerinnen und Schüler dazu befähigt, nationalstaatliche historische Denkmuster und Sichtweise zu dekonstruieren, die Pluralität europäischer Geschichtsbilder zu rekonstruieren und eine kritische, eigenständige Urteilsbildung zu fördern. Obschon das Prinzip der Handlungsorientierung vernachlässigt wird und einzelne historische Sachverhalte sehr knapp präsentiert werden, gelingt den Autoren ein neuer Ansatz eines modernen Geschichtsunterrichts, der es sich zum Ziel setzt, das Zusammenwachsen Europas zu fördern. Dieser Zugang trägt dem obersten Prinzip guten Geschichtsunterrichts, der Erziehung zu mündigen Bürgern, in vollem Umfang Rechnung.

Band 4: 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Wiesbaden: eduversum Verlag. 2020
256 Seiten m. farb. Abb.
24,80 €
ISBN 978-3-942708-33-3

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