Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Gerhard Haase-Hindenberg: „Ich bin noch nie einem Juden begegnet...“

„Ich bin noch nie einem Juden begegnet ...“ ist ein Satz, den Juden häufig hören und Nichtjuden häufig äußern. Das ist nicht verwunderlich, denn das Judentum macht nur 0,19 % der Weltbevölkerung aus. Problematisch ist es allerdings der Judenhass, der früher und heute häufig von Menschen ausgeht, die keinen einzigen Juden kannten oder kennen. Wie gut, dass es Initiativen wie „Meet a Jew“ oder dieses Buch gibt. Der Autor beginnt mit einem Prolog, der einen historischen Überblick skizziert über „Das Leben mit den Juden – seit 1700 Jahren.“

Sehr berührend und eindrucksvoll werden die „Kurzbiographien“ der „zweiten Generation“, der Töchter und Söhne von Überlebenden des Holocaust vorgestellt. Der Leser erfährt, wie schwer die Integration dieser jüdischen Kinder, gerade kurz nach der Shoah, in einer nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft war. Weil man Angst hatte, seine jüdische Identität preiszugeben, achteten die Eltern oft darauf, dass die Vornamen des Nachwuchses nicht zu jüdisch klangen. Ein Kind, welches in Israel noch David hieß, wurde in Deutschland eben zu Dieter. In den Geschichten wird die Einsamkeit dieser „zweiten Generation“ deutlich. Von den Eltern kam meistens nur Schweigen, denn die traumatischen Erlebnisse hatten sie verstummen lassen. Erst Ende der 1960er bzw. Anfang der 70er Jahre wurde der Holocaust in den Schulen thematisiert. Und die Nachkommen der Opfer stießen mit ihren Erzählungen nicht nur auf ungläubige Ohren. Seither hat sich viel getan, es gibt mittlerweile Juden in der Bundeswehr und sogar einen Militärrabbiner.

Im zweiten Kapitel „Aus aller Welt“ wird von den Kindern und Enkeln einstiger Emigranten berichtet, die, aus Nord- und Südamerika, Australien und sogar Israel kommend, sich auf Spurensuche nach ihren Vorfahren nach Deutschland und besonders nach Berlin gemacht haben. Generell erlebten die jüdischen Gemeinden seit 1991 einen großen Aufschwung, der durch die „Kontingentflüchtlinge“ aus der ehemaligen Sowjetunion zustande kam. Es wird berichtet, wie wenig viele von ihnen über das Judentum wussten. Sie wussten oft nur, dass sie Juden waren, denn sie hatten immer wieder Repressalien zu erleiden, weil in ihrem Pass als Nationalitätsvermerk „Jude“ stand. Sie entdeckten ihr Judentum durch die Begegnungen in den verschiedenen jüdischen Gemeinden und viele fanden ihre religiöse Heimat sowohl in orthodoxen und konservativen als auch in liberalen und progressiven Synagogen. Diejenigen, die nicht religiös waren und sind, versuchen in der Tradition des Judentums zu leben, begehen die Feiertage und kaufen sich sogar rituelle Gegenstände. Der Autor berichtet sehr eindrucksvoll über die „Wege zu einer jüdischen Identität.“

In den Kapiteln „Innovativ, individuell, jüdisch“ und „Die Rückkehr der jüdischen Kunst“ erfährt der Leser nicht nur Wissenswertes über die neue Berliner Kunstszene und die „israelische Kunst am Ort der Shoah“, sondern – anhand von Kurzbiographien – etwas über die verschiedensten Orientierungen und Formen jüdischer Identitäten. Allerdings machen viele dieser jungen Leute, für die Deutschland nicht nur das Land des Holocaust ist, sondern auch das der großen Musiker, Dichter und Denker, schon wieder schlimme Erfahrungen mit der jüdischen Identität – und das nicht nur von rechter oder muslimischer Seite. Man erfährt, dass „Personen mit einer Regenbogenflagge und einem Davidstern plötzlich, ohne dass sie sich in irgendeiner Form zu Israel geäußert haben, aus einem queer-linken Veranstaltungsraum oder von einer queer-linken Demo ausgeschlossen werden.“ In den Schilderungen wird dennoch deutlich zum Ausdruck gebracht, dass gerade Berlin als eine der tolerantesten Städte empfunden wird. Hier können Austauschbewegungen und Brücken entstehen, die zu einer Heilung beitragen.

Im letzten Kapitel, „Dein Gott ist auch mein Gott“ – formuliert in Anlehnung an das Buch Ruth 1,16 – berichtet der Autor über die Beweggründe, zum Judentum zu konvertieren. Am Ende steht die berührende Geschichte von Lissi Kuhn, die mit Hilfe des Rabbiners mit 91 Jahren endlich Jüdin wurde und nun für alle Ewigkeit auf dem jüdischen Friedhof ruhen kann.

Gerhard Haase-Hindenberg präsentiert sehr viele jüdische Kurzbiographien. Das hat seinen Grund, denn das Judentum ist sehr vielfältig und es gibt sehr viele unterschiedliche jüdische Menschen. Dem Autor gelingt es, einem klischeehaften Judenbild entgegenzutreten. Es wird deutlich, dass das Judentum nicht nur eine Religionsgemeinschaft, sondern auch eine Schicksalsgemeinschaft ist. Leser und Leserin begegnen Juden und Jüdinnen aus den verschiedensten Ländern, Berufen und Orientierungen. Alle haben eine jüdische Identität, aber auch eine mehr oder weniger traurige Familiengeschichte. „Alles Leben ist Begegnung“ sagte schon Martin Buber. Und damit man möglichst vielen jüdischen Menschen begegnen kann, sollte man dieses Buch lesen.

Lebensgeschichten aus Deutschland
Hamburg: Edition Körber. 2021
382 Seiten
22,00 €
ISBN 978-3-89684-290-9

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