Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Glen W. Bowersock: Die Wiege des Islam

Unser Blick auf die ersten hundert Jahre des Islams hat sich in der westlichen Forschung seit Beginn des 21. Jahrhunderts teilweise dramatisch verändert. Insofern besteht Bedarf nach einer konzisen und überschaubaren Darstellung des zugrundeliegenden Paradigmenwechsels und der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion in einer Form, die nicht nur gelernten Orientalisten die Lektüre schmackhaft macht.

Im englischen Sprachraum hat dies im Jahr 2017 der emeritierte Princeton-Professor Glen W. Bowersock unternommen, dessen Buch „The Crucible of Islam“ seit 2019 unverändert in deutscher Übersetzung vorliegt. Mit 160 Seiten ist es noch einmal wesentlich schmaler als das zeitgleich und ebenfalls bei C.H. Beck erschienene Buch von Lutz Berger „Die Entstehung des Islam. Die ersten hundert Jahre“ (2016, 2. Aufl. 2017, 334 Seiten). Wie Berger klammert auch Bowersock die komplizierte wissenschaftliche Diskussion um die Entstehung des Koran fast völlig aus und beschränkt sein Buch auf die zeit- und kulturgeschichtliche Entwicklung der arabischen Herrschaft von der vorislamischen Epoche über die Lebenszeit Mohammeds bis hin zur Herrschaft des Kalifen Abd el-Malik (gest. 705 AD).

Das schmale Bändchen bedingt eine besondere Vorgehensweise. Bowersock kann in den neun Kapiteln, die meist kürzer als 15 Seiten sind, nicht die Breite der einzelnen wissenschaftlichen Schulbildungen wiedergeben. Die kurzen Kapitel sind vielmehr gut lesbare, wissenschaftlich begründete Ausführungen, „ein Versuch, das komplexe kulturelle und soziale Milieu zu beschreiben, das die Entstehung einer neuen Religion ausgerechnet in dem Raum begünstigte, wo Judentum, Christentum und alte heidnische Kulte jahrhundertelang überdauert hatten“ (16).

Die arabische Herrschaft und der entstehende Islam werden also als Teil der spätantiken Kultur begriffen. Der Islam entwickelte sich dabei nicht ex deserto – isoliert aus der Wüste –, sondern aus einer stetigen Interaktion mit anderen Kulturen und Religionen auf der arabischen Halbinsel. Kapitel 1 „Das arabische Reich König Abrahas“ skizziert so Südwestarabien im 6. / 7. Jh. AD als Einflussraum diverser politischer Mächte – Persien, Äthiopien, Byzanz – und ihrer christlich, jüdisch oder pagan geprägten Kulturen. Dies entspricht dem aktuellen Forschungsstand.

Die beschriebenen politischen Einflusssphären lassen sich über Bauinschriften, Skulpturen und Textquellen mittlerweile verlässlich darstellen, aber die gleichen Quellen geben nur wenig sichere Auskunft über die genaue Art des damals gelebten Christentums, Judentums oder Paganismus. In Kapitel 2 „Arabischer Paganismus in der Spätantike“ hätte Bowersock darauf hinweisen müssen. So ist seine Zuordnung der sabī (Sabäer) des Korans zum neuplatonischen Paganismus bestenfalls eine Vermutung aufgrund sekundärer Literaturquellen (al-Masˁūdi, Julian Apostata). Hier wird ein grundsätzliches Problem deutlich: Das muntere Erzählen verdeckt, dass Kapitel 2 weitgehend auf der persönlichen Interpretation von Quellen und ihrer Konjekturen durch den Autor beruht, während Kapitel 1 wesentlich stärker auf archäologisch nachweisbare Fakten zurückgreifen kann.

Dieses Quellenproblem zeigt sich auch im vierten Kapitel „Äthiopien und Arabien“. Über die Hälfte des Kapitels (!) hinweg (64-71) erzählt Bowersock die legendäre Auswanderung der ersten Muslime nach Äthiopien (615 AD), ohne deutlich darauf hinzuweisen, dass hierfür keine äthiopischen Quellen vorliegen und dass die arabischen Quellen historisch unsicher sind. Der älteste Literaturbezug – das „Leben Mohammeds“ von Ibn Ishāq / Abū Hishām (8./.9. Jh. AD) – malt m.E. in dieser bekannten Episode ein ideales Sittengemälde christlich-islamischen Wohlverhaltens im 8. Jh. AD, das in die Lebenszeit des Propheten rückprojiziert wird. Lutz Berger übergeht in seinem Buch diese Episode aufgrund ihrer nicht nachweisbaren Historizität im Übrigen komplett.

Ausgezeichnet ist hingegen das wiederum ganz archäologisch begründete Kapitel 5 „Die Perser in Jerusalem“: „Nach Ansicht vieler Forscher schienen die Verwüstungen der persischen Invasion die frühislamischen Eroberungen zu erleichtern. Heute wissen wir, dass diese Deutung schlichtweg falsch ist.“ (84) Dieser neueste Forschungsstand zur Eroberung Jerusalems durch die Perser im Jahre 614 AD stellt nicht nur die systematische Zerstörung christlicher Kirchen und der Infrastruktur des Landes durch die Perser infrage, sondern auch ihre angebliche Christenverfolgung. Die Bevölkerung des persischen Sassanidenreichs bestand im 7. Jh. AD selber zu etwa einem Drittel aus syrisch-orthodoxen und assyrischen Christen. In der persischen Kampagne ging es nicht um Christenhass, sondern um die Kriegsgegnerschaft des Oströmischen Reiches und seiner byzantinisch-orthodoxen Staatsreligion.

Kapitel 6 „Mohammed und Medina“ erzählt in bekannter Art von der Umformung der Stadtgesellschaft von Yathrib durch den „Vertrag von Medina“, den Bowersock als eine historische Urkunde aus der Zeit Mohammeds ansieht. Allerdings liebäugelt er mit Michael Leckers Theorie, der eine Verbindung der Hidschra von 622 AD mit der Expansionspolitik des byzantinischen Kaisers Heraclius annimmt.

Kapitel 7 „Das Interregnum der vier Kalifen“ verzichtet aufgrund der sehr reduzierten Quellenlage dieser Zeit auf weitere Thesen. Stand der Forschung ist heute, dass sich in den 630er bis 650er Jahren für die christlichen und jüdischen Untertanen der neuen arabischen Herrscher wenig änderte – bis auf die Adresse, an welche die Steuern zu entrichten waren. „Eine neue Ordnung“ (Kap. 8) zog erst mit den Kalifen der Umayyaden-Dynastie auf. Speziell Abd el-Malik (685-705 AD) wird von Bowersock als Repräsentant dieser neuen Gesellschaftsordnung vorgestellt: Die ersten arabischen Münzen werden geprägt, das Arabische ersetzt langsam das Griechische als Amtssprache, der Koran erhält in einem zweiten Redaktionsprojekt seine bis heute gültige Gestalt. Mit dem Sieg über den Gegenkalifen Ibn al-Zubair steht die Entscheidung an, ob Mekka oder Damaskus Hauptstadt des arabischen Reiches wird. Abd el-Malik entscheidet, Mekka als haram (Heiligkeitsbezirk) der Muslime vom Regierungssitz des arabischen Reiches zu trennen. Damaskus wird so zur Hauptstadt eines Reiches, das Untertanen mit einer großen religiösen Diversität vereint.

Während der Islam mit der Kaaba in Mekka sein architektonisches Zentrum hat, fehlt für das Gesamtreich ein entsprechender repräsentativer Bau, der das Zusammenleben einer religiös diversen Bevölkerung unter der Führung des muslimischen Herrschers symbolisieren kann. Diesen stiftet Abd el-Malik mit dem „Felsendom zu Jerusalem“ 691/2 AD (Kap. 9). Der Bau ist weniger eine Moschee als das Memorial eines kulturellen und religiösen Reichsverständnisses. So sah es bereits Oleg Grabar in seiner grundlegenden archäologischen Untersuchung des Felsendoms (The Shape of the Holy, 1996). Die berühmten Inschriften im inneren Oktagon betonen den islamischen tawhīd (Monotheismus), heben aber vor allem auch Jesus als Propheten mit allen seinen koranischen Ehrentiteln hervor – und wehren gleichzeitig deren Interpretation im Sinne der christlichen Inkarnations- und Trinitätslehre ab. An diesem Punkt endet die Darstellung von Bowersock etwas abrupt, ohne auf die „neue Ordnung“ Abd el-Maliks für ein Zusammenleben von Muslimen, Juden und Christen weiter einzugehen. Bestand diese wirklich nur aus der Zurückweisung des christlichen Bekenntnisses? Hier hätte man gerne eine Auseinandersetzung mit Almut Höferts These eines vergleichbaren „monotheistischen Imperialismus“ in Kalifat und byzantinischem Kaisertum gelesen (Kaisertum und Kalifat, Campus-Verlag, Frankfurt am Main 2015).

Fazit: Gut eingefangen ist der moderne Forschungsstand, nämlich den byzantinischen, persischen und äthiopischen Einflusssphären auf der arabischen Halbinsel aus ihren unterschiedlichen Selbstverständnissen heraus gerecht zu werden. Daraus ergibt sich ein Blick auf den entstehenden Islam, der mehr Eingebundenheit in die spätantiken Kulturen als die lang behauptete splendid isolation aufweist. Auch die Herrschaft der frühen Kalifen zeigte mehr Kontinuitäten zu byzantinischen und persischen imperialen Strukturen als Brüche mit ihnen. Ein kenntnisreiches und lesenswertes Buch, das in seiner Kürze aber auch etliche Schwächen aufweist, insbesondere die beschriebene Quellenproblematik. Diese lassen das Gesamturteil kritischer ausfallen als in den Besprechungen von Günther Lerch in der FAZ vom 28.04.2019 oder von Philipp Hufschmid in der NZZ vom 27.07.2019.

Mohammed, der Koran und die antiken Kulturen
Aus dem Englischen von Rita Seuß
München: C.H. Beck Verlag. 2019
160 Seiten m. s-w. Abb.
22,00 €
ISBN 978-3-406-73401-4

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