Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Godehard Brüntrup / Ludwig Jaskolla / Tobias Müller (Hg.): Prozess – Religion – Gott

Der hier anzuzeigende Sammelband regt dazu an, eine religionsphilosophische Diskussion weiterzuführen, die bisher in Deutschland nur zögerlich in Gang gekommen ist. Auch wenn das Werk des mathematisch und naturwissenschaftlich geprägten Denkers Alfred North Whitehead (1861-1947) als schwierig gilt, so lohnt es sich doch, am Leitfaden dieses Sammelbandes sich auf sein Denken einzulassen.

Die Bedeutung seines noch immer einzigartigen „prozessmetaphysischen“ Ansatzes kann kaum unterschätzt werden, denn Whitehead ist der erste Denker der Gegenwart, der es unternimmt, die individuellen Erfahrungen des menschlichen Lebens, die bisher meist zu phänomenologisch-hermeneutischen oder subjekttheoretischen Denkentwürfen ohne ausdrücklichen Bezug auf die Naturwissenschaften geführt haben, und die Ergebnisse von Quantenphysik und Evolutionstheorie nicht mehr dualistisch oder gar antagonistisch nebeneinander laufen zu lassen, sondern sie zu einer einheitlichen Gesamtsicht in einer „spekulativen Kosmologie“ zu integrieren. Dazu entwirft Whitehead ein jederzeit korrigierbares, in sich widerspruchsfreies, aber zugleich empirisch gesättigtes Kategorienschema, mit dem alle unsere Erfahrungen – also religiöse, ästhetische, ethische, naturwissenschaftliche – in einem einheitlichen Rahmen als „metaphysische Situation“ „spekulativ“ gedeutet werden kann.

Da alle Wirklichkeit, als die und in der wir uns erfahren, sich ständig in einem Prozess von Werden und Vergehen befindet, schlägt Whitehead vor, die Wirklichkeit in Analogie zu einem Organismus zu betrachten, da ja alle einzelnen Elemente der Welt weder isoliert noch vollständig unabhängig voneinander existieren und daher von vornherein nur als auf einander bezogen gedacht werden können. Seine „organismische“ Philosophie basiert zugleich auch auf den Ergebnissen der Evolutionstheorie. Von diesem Ansatz aus weist er alle gängigen philosophischen und naturwissenschaftlichen Denkmuster zurück, die durch ihre irreführenden, als konkrete Wirklichkeit erscheinenden Abstraktionen (fallacy of misplaced concreteness) Gegensätze statt Beziehungen („Bifurkationen“ statt „Relationen“) in den Blick nehmen, wie z.B. endliche und unendliche Substanz, geistiges und materielles Sein, Vernunft- und Tatsachenwahrheiten, Vernunftgründe und Erfahrungsursachen.

Statt relationsloser Größen lässt sich Whiteheads Welt als ein organisches Beziehungsgeflecht von Erfahrungseinheiten („drops of experience“ mit unteilbarem Volumen und Zeitquantum) bestimmen, die er „actual entities“ (aktuelle Geschehnisse bzw. Ereignisse) nennt. Sie stellen „aufgrund der Art ihrer Selbstkonstitution interdependente elementare Erfahrungskonzentrationen des Universums dar (Dörr, 68)“. Aus ihnen, ihren Verknüpfungsbewegungen („nexûs“) und aus „Gesellschaften“ (societies) solcher Verknüpfungen baut sich der Kosmos auf. Unter solchen „Nexûs“ versteht Whitehead Gebilde wie Moleküle, Kristalle, Zellen, Pflanzen, Tiere und natürlich Menschen bilden wiederum „Gesellschaften“ solcher Nexûs. Sie alle entwickeln sich als lebendiger Prozess von einem physischen Pol (den Vorgegebenheiten ihrer Vergangenheit, die ihnen einen begrenzten Horizont von Lebensmöglichkeiten anbieten) zu einem psychischen Pol (der selbst vollzogenen Zukunft als ihrer Erfüllung).

In diesem Entwurf, der als Kosmologie gefasst ist, hat die Religion bzw. haben die Religionen als phänomenologisch zu erschließende Dimensionen der Wirklichkeit der Menschen einen anerkannten Ort in der Welt. Sie sind als Entwicklungsprozesse auf der Basis kulturell bedingter Lebensformen zu deuten, die sich in einem Prozess fortlaufender Rationalisierung in Auseinandersetzung mit anderen Religionen oder den Wissenschaften weiterentwickeln können.

In Whiteheads prinzipiell revidierbarer Metaphysik kann auch Gott in seiner kosmologischen Relevanz gedacht werden – und zwar als „erste Irrationalität“, also in der Weise eines Grenzbegriffs. Bernhard Dörr beschreibt dies so: „Ähnlich wie schon in ‚Science and the Modern World‘ hat Gott auch in ‚Process and Reality‘ die Funktion, die Möglichkeiten, die jeder ‚actual entity‘ im Werdeprozess zur Verfügung stehen, zu begrenzen, da es sonst nicht einsichtig wäre, wie trotz der vielen Möglichkeiten eine gewisse Konstanz im Weltverlauf gewährleistet werden kann. Gott spannt somit einen Rahmen von Möglichkeiten auf. Allerdings sieht Whitehead Gottes Funktion hinsichtlich der Welt nicht nur in der Begrenzung, sondern in einer gleichzeitigen Bewertung der möglichen Bestimmtheiten. Diese zusätzliche Zuschreibung wird dadurch legitimiert, dass die Tendenz der Welt, immer neuere und komplexere Formen zu verwirklichen, dadurch erreicht werden kann, dass Gott zu mehr Komplexität und Harmonie ‚überredet‘, wobei das spontane Moment in der Wirklichkeit bewahrt wird. Gott ‚lockt‘ gewissermaßen die Welt zu tieferer Erfahrung, ohne ihr die Freiheit zu nehmen.

Was bedeutet diese Analyse für das Gotteskonzept? Analog zu den weltlichen Entitäten führt die metaphysische Analyse hinsichtlich des Gotteskonzepts zu einer Bipolarität Gottes, durch die er mit der Welt verbunden ist:Während sein ‚mentaler Pol‘, der ‚Urnatur‘ (primordial nature) genannt wird, alle möglichen Formen als Potentiale für die Welt enthält und diese für den Konstitutionsprozess der weltlichen Entitäten als mögliche zu realisierende Formen gerade so abstimmt, dass die Verwirklichung dieser Formen zu größtmöglicher Erfahrungstiefe bei gleichzeitiger größtmöglicher Sozialverträglichkeit führen würde, nimmt Gott die weltlichen Entitäten durch seine Folgenatur (consequent nature), die sein ‚physischer Pol‘ ist, in seinen eigenen Prozess auf, sobald diese vollständig bestimmt und so in der Welt vergangen sind. Es gibt also nicht nur eine organische Verwobenheit der weltlichen Entitäten untereinander, eine solche findet sich – wenn man den Grundannahmen der metaphysischen Analyse Whiteheads folgt – notwendig auch zwischen Gott und Welt“ (15 f). Die christliche Schöpfungslehre z.B. wird hier gedanklich anschlussfähig. Auf dieser philosophischen Basis ist ein Gespräch zwischen Religionen (und ihren Theologien) mit den Naturwissenschaften möglich.

Der vorliegende Band bemüht sich auf diesem Hintergrund um die explizite Aufarbeitung und Rezeption der Religionstheorie und -philosophie Whiteheads. Der Rezensent empfiehlt den neugierig gewordenen Leserinnen und Lesern, die sich ein erstes Verständnis des interessanten, aber durchaus komplexen Entwurfs einer Kosmologie, welche Religion und Gottesbegriff in ihr Gedankengebäude zu integrieren vermag, neben der Einleitung der drei Herausgeber die in besonders eindringlicher Weise zu Whitehead hinführenden Aufsätze von Bernhard Dörr über „Whiteheads Beitrag zur Zivilisierung der Menschheit“, von Tobias Müller über „Begründung, Entwicklung und Status des Gottesbegriffs in Whiteheads Philosophie“ und von Klaus Müller über „Whiteheads Gottesgedanken als Einholung biblischer Intuitionen“.

Bernhard Dörr sieht das Besondere der Whitehead‘schen philosophischen Kosmologie in seinem Begriff des Universums. Er biete eine Alleinheitsperspektive dar, innerhalb derer Gott und Welt miteinander interagieren. Religion stellt den Menschen dabei in das Ganze des kosmisch-biotisch-zivilisatorischen Ereigniszusammenhangs hinein. So könne die Einheit der Menschheit ohne Zwang, Gewalt und Unterdrückung als normative Bestimmung menschlichen Verhaltens in den Blick rücken.

Klaus Müller zeichnet in knappen Strichen eine Geschichte derjenigen „panentheistischen“ Denkbewegungen der europäischen Geschichte seit den Vorsokratikern, die den Zusammenhang von Kosmos (Universum) und Gottesgedanken immer neu umkreist haben. Von diesem Hintergrund her deutet er Whiteheads theistische Philosophie als den Versuch, die von den Hauptrichtungen der christlichen Gottesrede verdrängte, „aus den jüdisch-christlichen Traditionen stammende Idee eines sich in Liebe der Welt zuwendenden, nachgerade sich an sie verlierenden Gottes“ „wieder … zugänglich zu machen“. Eine Gottesrede, die Gott als politische Herrschergestalt, Moralinstanz oder abstraktes Grundprinzip deute, werde hier zugunsten eines „großen Begleiters“ oder „Mitleidenden“ verabschiedet. Es handele sich um eine den Intentionen der kantischen Religionsschrift ebenbürtige „Einholung religiöser Gehalte in einen Horizont vernunftgemäßer Rechtfertigung“ (200 f passim).

Der Mitherausgeber Tobias Müller arbeitet die allmähliche Entwicklung des von Whitehead im Interesse einer methodischen Begründung seiner philosophischen Kosmologie eingeführten Gottesbegriffs heraus. Er sei also streng metaphysisch und nicht genuin religiös motiviert. Wer den drei Stufen dieser Entwicklung folgt, gewinnt ein plastisches Bild der Whitehead‘schen Gedankenführung. Müller fasst dann auf sehr gelungene Weise die charakteristischen Merkmale dieses Gottesgedankens, die „göttliche Konkreszenz“ (seine in das Universum „hineinwachsende“ Schöpfungstätigkeit zwischen „Urnatur“ und „Folgenatur“) und zugleich „bleibende Andersheit“, zusammen. Es folgen beachtenswerte Ausführungen zum Status dieses Gottesbegriffs als eines kontingenten inhaltslogischen Grenzbegriffs. Zum Abschluss resümiert der Autor, die Whitehead‘sche Kosmologie biete sich „als ein konzeptioneller Bezugspunkt für die von einer heutigen Theologie geforderten Vermittlungsversuche mit dem modernen Denken (z.B. im Dialog mit den Naturwissenschaften) an“, und kommt zu folgendem Schluss: „Besonders die auf strikten Dualismen beruhenden Aporien des gegenwärtigen Denkens können mit Whiteheads philosophischer Kosmologie vermieden werden, denn diese bieten einen metaphysischen Ansatz, mit dem die strikte Trennung von Materie und Geist sowie von Natur und Gott überwunden werden kann, ohne dass eine der beiden Instanzen auf die andere reduzierbar wäre. (140)“

Solchermaßen gerüstet kann sich der Leser dann einigen zum Einstieg geeigneten Schriften Whiteheads zuwenden, wie sie Tobias Müller unter der Perspektive der Entwicklung des Whitehead‘schen Gottesbegriffs vorgestellt hat, etwa der in den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts verfassten Schrift „Was ist Religion?“ („Religion in the Making“) oder kürzeren, aus Vortragsreihen entstandenen Abhandlungen wie „Wissenschaft und moderne Welt“ („Science in the modern World“).

Whiteheads Religionsphilosophie im Kontext seiner Prozessmetaphysik
Freiburg / München: Karl Alber Verlag. 2020
287 Seiten
34,00 €
ISBN 978-3-495-48960-4

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