Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Guido Morselli: Dissipatio humani generis oder Die Einsamkeit. Roman

Dieser Roman ist ein sprödes Meisterwerk, das so etwas wie eine anthropologische und weltanschauliche Formalität zum Ausdruck bringt. Diese Formalität ermöglicht es, den Roman unter den unterschiedlichsten weltanschaulichen Gesichtspunkten zu interpretieren (über die Hochreligionen und einen atheistischen Existenzialismus bis hin zum Anthropofugalismus). Passend zur Pandemie und zur Klimakrise wurde dieses Buch, das die Konsequenzen eines plötzlichen globalen Verschwindens der Menschheit erzählt, mit entsprechenden aktuellen apokalyptischen Bezügen in vielen Tageszeitungen und Feuilletons besprochen.

Hier meine Lesart: Der Roman kann in religionsgeschichtlicher Perspektive auch als (fast) traditionelle apokalyptische Jenseitsreiseerzählung verstanden werden. Zwar hat die traditionelle Apokalyptik auch mit so etwas wie „Weltuntergang“ zu tun, doch ist sie ihrem Wesen nach eine hoffnungsstiftende Bilderwelt, die den zwar katastrophalen, aber heilsamen Übergang zu einer besseren Lebensform beschreibt. In der „klassischen“ apokalyptischen Jenseitsreiseerzählung wird ein Mensch, möglicherweise nachdem er – oft in der Natur – eingeschlafen ist, durch ein göttliches Wesen (ein Gott, eine Göttin, ein Engel) in die jenseitigen Sphären mitgenommen und erlebt auf dieser Reise die hoffnungsvoll stimmende Ordnung unseres Kosmos im Raum und in der universalen Geschichtszeit. Angewiesen ist dieser Mensch auf das göttliche Wesen nicht nur im Hinblick auf die kosmische Reisemöglichkeit, sondern auch im Hinblick auf dessen Deutung der göttlichen Ordnung (Deuteengel), da er sich in jenseitigen Sphären aufhält.

So wie zu einem erzählbaren Schiffbruch ein Zuschauer (Hans Blumenberg) gehört, so gehört zu diesem vollkommenen Beenden menschlicher Existenz ein Icherzähler. Der Icherzähler charakterisiert sich als einen Menschen, der schon immer die Menschen gemieden hat und ein großes Interesse an Einsamkeit besaß. Er hat sich deshalb in ein einsames Bergdorf zurückgezogen.

Die Handlung setzt ein mit dem Rückblick des Icherzählers auf einen missglückten Suizid am Vortag, seinem vierzigsten Geburtstag. Es erinnert an Jean-Paul Sartres Roman „Der Ekel“ (1938), wenn der Verfasser für seine Motivation zu diesem Suizid eine Art universalen „Ekel“ (21) angibt. Als er am Morgen danach aufwacht, muss er langsam feststellen, dass es auf der ganzen Welt keine Menschen mehr gibt. Dieses Bewusstsein der radikalen Einsamkeit erschließt sich ihm auf einer Reise in einem „diesseitigen Jenseits“, in dem es ohne „Menschheit“ nur noch ihn als eine Singularität gibt, die Ich sagen kann (35). „Die Menschheit, en masse angelisiert (ich nenne das mal so), erhob sich in ein Empyreum. Alles läuft in der Stille ab. Dieses eine Mal in der Stille und ohne Rhetorik.“ (76)

In der „klassischen“ Jenseitsreise begibt sich der apokalyptische Visionär/Prophet auf eine Jenseitsreise in die himmlischen und/oder höllischen Sphären, begleitet von einem „Deuteengel“, den er notwendig braucht, weil er sich im jenseitigen Bereich bewegt, der menschliche Maßstäbe radikal transzendiert. Immer wieder werden in dem Roman subtile Hinweise auf apokalyptische Erzählmuster geliefert. Der Icherzähler ist „nachtsichtig“ (24) und hat „sehr gute Augen“ (29). Doch der Weitblick und die Reise in die Himmelssphären kann nicht mehr gelingen. Im internationalen Flughafen, durch den er eigentlich mit „unendlichen Horizonten verbunden“ (47) ist, gibt es Flugzeuge, aber keine Flugkapitäne und Passagiere mehr, und in der Sphäre der Telefone ist die akustische Weltreise zu nicht mehr existierenden Freunden in anderen Ländern und Kontinenten unmöglich (43).

Der Icherzähler passt in die Rolle des überlebenden apokalyptischen Zuschauers. Eine Zeitlang hatte der Icherzähler schon früher – er war auch in der Psychiatrie – tatsächlich gemeint, er sei allein auf der Welt, und erinnert nun auf seiner Jenseitsreise seinen eigenen „Solipsismus“ (57). Und auch theoretisch hat er sich mit diesem Themenkreis beschäftigt. Er hat weiterhin eine „Psychologie des Bewusstseins“ (42) geschrieben. In seinem psychischen Zustand hat ihm damals ein psychiatrischer Arzt namens „Karpinsiky“ (bes. 69ff) geholfen. Am Ende sehnt sich der Icherzähler vielleicht nicht direkt nach Menschen, wohl aber nach einer Aufhebung seiner unverständlichen Einsamkeit. Er hat keinen möglichen Deuteengel, der ihm erklären könnte, dass das alles einen wirklichen Sinn habe. Da bleiben nur noch die Hoffnung und der vom Icherzähler pointiert formulierte Glaube, dass ein „Deuteengel“ namens Karpinsiky sicher kommen werde: „Das ist eine Gewissheit, nicht eine bloße Erwartung, und sie befreit mich von jeder Ungeduld.“(174) Mit den abschließenden Sätzen des Romans hat der Icherzähler sich auf einen ganz individualistischen absoluten Standpunkt angesichts des Verschwindens der Menschheit gestellt: „Ich sitze auf einer Alleebank und betrachte das Leben, das sich in dieser merkwürdigen Ewigkeit unter meinen Blicken vorbereitet. … In der Tasche habe ich, für ihn (Karpinsiky, L.H.), ein Päckchen Gauloises“. (175)

In den Feuilletons wurde der Roman oft oberflächlich mit aktuellen Klimawandelängsten oder der Pandemie in Verbindung gebracht. Das mag stimmen. Aber er berührt tiefer und ist – wie große Literatur meistens – manchmal verstörend und tröstend zugleich. Es lohnt, ihn parallel mit Hermann Kasacks „Die Stadt hinter dem Strom“ (1947) zu lesen.

Aus dem Italienischen von Ragni Maria Gschwend
Mit einem Nachwort von Michael Krüger
Berlin: Suhrkamp Verlag. 2021
189 Seiten
20,00 €
ISBN 978-3-518-22529-5

Zurück