Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Hans-Dieter Mutschler: Halbierte Wirklichkeit

Warum der Materialismus die Welt nicht erklärt

Die Naturwissenschaft allein bietet verlässliche Wahrheit und ist so zum Maß aller Dinge geworden. Jede Aussage über die Welt, über uns und selbst über Gott muss vor ihren Richtstuhl treten (oder gezerrt werden). Was nicht im Einklang mit ihr ist, wird verworfen. Aber immer weniger kann bestehen: Ihr nüchtern objektiver Blick zeigt die Welt als eine kausal durchgängig geordnete, letztlich rein materielle Wirklichkeit, in der es keinen Raum für Phänomene anderer Art gibt. Der Geist und die Seele des Menschen, unsere Freiheit, aber natürlich auch Gott sind bloße Traumgespinste, die christlichen Glaubensüberzeugungen können keinen berechtigten Wahrheitsanspruch erheben. 

So kann man eine weit verbreitete Überzeugung in der heutigen Kultur zusammenfassen, die nicht nur Naturwissenschaftler teilen, sondern viele Zeitgenossen. Hans-Dieter Mutschler bringt die Folgen für die Theologie in seinem Buch trefflich auf den Punkt: „Die Theologie steht unter Beschuss. Einstmals die Königin der Wissenschaften, ist sie im Bewusstsein vieler Intellektueller unterdessen auf den letzten Platz herabgesunken, zusammen mit Astrologie, Alchemie, Esoterik und Fußreflexzonenmassage.“ 

Nun hat die Theologie in unterschiedlicher Weise auf diese Herausforderung zu reagieren, etwa indem sie sich in den Bereich der Gefühle zurückzog, auf metaphysische Deutungen der Welt verzichtete oder sogar eine naturalistische Theologie entwarf. Der Preis für solche Reaktionen ist nach Mutschlers scharfsinnigen und manchmal scharfen (und vor gelegentlichen Ohrfeigen nicht zurückschreckenden) Analysen die Selbstaufgabe einer substantiellen Theologie. Er beklagt deren „traurige Tradition“, dem Zeitgeist hinterherzuhecheln; denn wenn sie die „materialistischen Vorurteile“ unserer Wissenschaft übernähme, könne sie nur verlieren.

Aber es sind eben größtenteils „Vorurteile“, wie Mutschler luzide und kenntnisreich zeigt: Die Naturwissenschaften implizieren nämlich keinesfalls den Materialismus, sondern diese ist im Grunde auch nur eine Glaubensüberzeugung, der viele blind und unreflektiert anhängen. Aber hier kann man gelassen bleiben, denn wie Mutschler im siebten Kapitel nachweist, ist der Materialismus auf dem besten Wege, sich selbst ins Unbestimmte aufzulösen, da er nicht einmal mehr präzise angeben kann, was er eigentlich behauptet. Denn der weltanschauliche Materialismus basiert nach Mutschler auf drei „Säulen“, die alle letztlich bröselig sind und diese Weltanschauung nicht wirklich stützen: dem Materieprinzip, dem Supervenienzprinzip und dem Prinzip der kausalen Geschlossenheit der Welt. Für alle drei zeigt er, dass sie weder aus den Naturwissenschaften folgen, noch überhaupt schlüssig seien; so gäbe es in der modernen Naturwissenschaft im Grunde keinen Begriff der Materie, weil dieser kleinste Teilchen voraussetzt, von denen heute kein Physiker mehr ausgehe.

Es ist schwer, in einer kurzen Besprechung der Fülle der Themen des Buches gerecht zu werden. Denn der Verfasser kritisiert nicht nur den materialistischen Monismus, sondern auch alternative Versuche, die Welt auf wenige oder nur ein Prinzip zurückführen. Solch ein Ansinnen sei „totalitär“, meint er, einen Einwand, den er gleichermaßen gegen den materialistischen Monismus der Naturwissenschaft wie gegen Hegels idealistisches System erhebt. Der Materialismus verkenne das Geistige und Hegels Philosophie werde der Vielfalt der Natur nicht gerecht. Vor diesem Rahmen entwirft Mutschler im letzten Drittel dann eine neue, von Aristoteles inspirierte Naturphilosophie mit einer pluralen Ontologie, die eine „Verschränkung von Geist und Materie“ ins Zentrum stellt. Diese soll aber keine metaphysische Großerzählung sein, sondern eine „narrative Theologie der Natur“.

Man mag einzelnen Analysen des Buches nicht folgen wollen. Hegel als Mystiker zu lesen, der von einer Einheitsintuition ausgeht, scheint mir zum Beispiel wenig plausibel, wie auch die Parallele zwischen materialistischem Monismus und idealistischen Systemen asymmetrischer ist, als Mutschler meint. Zudem ist fraglich, ob man wirklich auf das Ideal einer einheitlichen, also monistischen Weltdeutung ganz verzichten kann – die von Mutschler skizzierte plurale Ontologie steht vor dem Problem, dass wir doch in einer Wirklichkeit leben, was mit einer Verschränkung nicht hinreichend erklärt ist. (Seine Antwort, den Monismus könne nur Gott und nicht der Mensch denken, ist eben doch ein indirekter Versuch, ihn zu denken.)

Alle Einwände, die man gegen einzelne Gedanken des Buches erheben mag, tun dem großen Wert dieses Buches keinen Abbruch. Hier liegt eine überaus erhellende Kritik am Alltagsmaterialismus und eine spannende neue Naturphilosophie vor – und Mutschler macht überzeugend deutlich, dass eine Theologie auf solche Versuche nicht wird verzichten können. Denn etwas Substantielles über die Wirklichkeit zu sagen und der Naturwissenschaft nicht die Deutungshoheit mit ihrem unreflektierten Materialismus zu überlassen, ist eine zentrale Herausforderung an die heutige Theologie. Dafür muss sie eine fächerübergreifende Kompetenz entwickeln und stereotype Denkmuster (oder genauer: Nicht-Denkmuster) überwinden, wie es in vorbildlicher Weise von Mutschler versucht wird. Unbeirrt von modischen Diskussionen rückt er den wirklich entscheidenden Sachfragen in dem klar geschriebenen, argumentativ dichten Text auf den Leib. Dass die Lektüre für den philosophisch und theologisch ungeschulten Leser manchmal eine Herausforderung sein wird, kann nicht bestritten werden, aber billiger sind Antworten auf die großen Fragen nicht zu haben. Und der Lohn der Mühe sind faszinierende Überlegungen und wunderbare, oft humorvolle sprachliche Perlen, in denen Mutschler seine Ergebnisse oft auf den Punkt bringt. Ach, gäbe es mehr solcher Bücher!

Kevelaer: Butzon & Bercker. 2014
340 Seiten
24,95 €
ISBN 978-3-7666-1721-7

 

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