Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Hans-Joachim Höhn: Ich. Essays über Identität und Heimat

Das Ich steht in der (Spät-)Moderne an jener Stelle, „wo es die Grammatik immer schon hingestellt hat: auf Rang eins.“ Die Versuche des Ichs, sich in sich oder aus sich heraus zu (er-)finden, führt in tiefe Aporien, aus denen der christliche Glaube die Kraft hätte herauszuführen. Diese „Zeitdiagnose“ – unvermeidlich mit dem verpönten „doppelten Maß“: das Evangelium im Licht dieser Zeit, diese Zeit im Licht des Evangeliums verstehen – führt Höhn in vier Themenkreisen durch.

Der erste Themenkreis (Kap. 2) widmet sich der Freiheitsliebe. Worum es dem Menschen heute im Leben geht, ist, dieses als ein „eigenes“ zu leben. Das verlangt, möglichst viele Optionen zu haben. Aber das Offenhalten der Optionen ist von einer selbstaufhebenden Tendenz bestimmt. Erstens muss man sich Optionen leisten können. Das erfordert Anpassung an Erfordernisse ökonomischer Systemlogiken und insofern Bedrohung der Autonomie. Zweitens ist dasjenige, das in der Mitte seiner Verfügungsmasse steht, nämlich das Ich, darauf angewiesen, dass es selbst unverfügbar ist. Die Unverfügbarkeit der Freiheit wird erst dort sichtbar, wo sie anderer Freiheit „gegenüber“ ist. Freiheit ruft Freiheit hervor (die Frage die Antwort; die Erklärung die Einsicht; das Du, das Ich etc.). Allerdings schließt diese Befreiungstat an ein bereits Gegebenes an: Menschen setzen einander frei, indem sie sich als Freie begegnen – d.h. die Freiheit anerkennen als etwas, das ihrer Verfügung entzogen ist. Diese Unbedingtheit der Freiheit aber lässt sich letztlich nur denken, wenn ihr Grund eine jeder Bedingung entzogene unbedingte Wirklichkeit ist, die mit dieser ihrer Unbedingtheit bedingte Freiheit will und meint.

Zweiter Themenkreis. Dass das Ich möglichst viel Offenheit haben will, ist nur die eine Seite, die andere verhält sich entgegengesetzt zu ihr: Ich will jemand sein, originell und authentisch – darin liegt nun Festlegung, und diese soll zugleich sichtbar sein (soziale Medien als „Profilbild“ und Tätowierung als Bestimmung dessen, was ich „nicht mehr loswerden will“). Aber auch hier begegnen die Aporien reiner Selbstsetzung. Denn was gibt einem solchen Selbstentwurf eigentlich Sinn und Wert – schon die Tatsache, dass ich ihn „gewollt“ habe? Entsprechend häufig wechseln Profilbilder, verdoppeln sich Identitäten im Internet, koinzidiert die Explosion der Tattoo-Kunst mit den Möglichkeiten, sie wegzulasern. Wieder gibt es einen aus Weg aus dem Dilemma nur durch die Beziehung: Zu mir zu stehen heißt, zu meinen Bezügen zu stehen; die anerkennen, die mit mir sind, und von ihnen Anerkennung erfahren. Unüberbietbar in ihrer identitätsschaffenden Potenz ist die Beziehung zu jener „Wirklichkeit, als deren Gegenüber sich der Mensch als Person, d.h. in seiner Freiheit, Unvertretbarkeit und Beziehungsfähigkeit angesprochen und ‚gemeint‘, realisieren kann.“ Erst in der Erkenntnis, von Ihm in Da- wie Sosein gewollt zu sein, verliert meine Existenz das zwanghaft „Gewollte“.

Dritter Themenkreis: Identität und Differenz. Unverwechselbare Identität habe ich nur in der Unterscheidung von anderen. Aber wenn alle unterschiedlich sind, was ist dann am Unterschiedlichsein noch unterschiedlich? Von dort her spricht Höhn eine deutliche Warnung aus, primär auf das unterscheidend Christliche setzen zu wollen. Denn es ist keineswegs gesagt, dass das „unterscheidend Christliche“ auch das „entscheidend Christliche“ ist. Das entscheidend Christliche ist vielmehr, dass es zwischen Gott und Geschöpf einen Unterschied bekennt, der einerseits alle zwischen Geschöpfen mögliche Unterschiedenheit um ein Unendliches übertrifft und andererseits gerade so ihre „je größere Gemeinsamkeit“ als Kinder Gottes begründet. Das unterscheidend Christliche ist also, das die von ihm bewahrte Unterscheidung verbindet.

Viertens: Heimat. Sie tritt vor allem dann in den Blick, wenn sie – durch Aus- oder Zuzug – bedroht oder verloren ist. Der wesentliche Beitrag des Christentums in dieser Sache besteht in der grundstürzenden Behauptung, dass die Heimat, die „im Rückspiegel“ liegt, nicht entscheidend ist. Heimat liegt vor uns. Es geht nicht darum, zurück, sondern dem Reich Gottes nahe zu kommen. Und zu diesem Reich gehört vor allem, dass es uns gelingt, miteinander zu sein. Insofern missbraucht derjenige das Christentum, der es als nostalgische Kraft versteht; seine „Heimat ist im Himmel“.

Der Verfasser hat ein beeindruckendes Plädoyer mit einem großen phänomenologischen und analytischen Gespür für die Strebungen unserer Zeit vorgelegt. Wenn man etwas kritisieren kann, dann vielleicht, dass die Zeitdiagnose den bei weitem größten Platz des Buches einnimmt. Angesichts der Gegenlogik, die ihre Aporien lösen könnte, hätte deren Entwicklung mehr Platz verdient. Das ist Klagen auf hohem Niveau: ein beeindruckender Gang durch die Dialektik der Selbstverwirklichung und eine Richtungsweisung, dass „in und zu unserer Zeit“ der christliche Glaube statt von gestern „an der Zeit ist und zugleich über diese Zeit hinausweist.“

Würzburg: Echter Verlag. 2018
160 Seiten
14,90 €
ISBN 978-3-429-04454-1

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