Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Harald Seubert: Zwischen Religion und Vernunft.

Vermessung eines Terrains

Wenn Religionen, in den Begriff gebracht, vollständig rationalisierbar wären, so ginge deren Lebendigkeit verloren. Vieles bleibt dem nötigen und heranführenden Vernunftverständnis im Eigentlichen letztlich doch verborgen und unzugänglich. Daher können Religionen mit ihrer unüberschaubaren Vielfalt nie vollständig, im Ganzen in den Blick gebracht werden, auch wenn dieses Ziel als Blickrichtung und Motivation elementar bleibt. Würde dieses Ziel erreicht, so ginge die Faszination und die Anziehungskraft des letztlich Verborgenen verloren, denn so nötig das Definieren für die Präzisierung ist, so stammt das Wort doch vom lateinischen „definire“ ab, in dem das Grundwort „finis“, dt. „Ende“, verborgen ist! 

Dieser letzten Uneinholbarkeit und der doch nötigen hinführenden Begreifbarkeit von Religionen stellt sich der in Basel lehrende Harald Seubert in seinen umfangreichen religionsphilosophischen Grenzgängen zwischen „Religion und Vernunft“, welche im Untertitel den eingangs skizzierten Anspruch als „Vermessung eines Terrains“ bestätigen: Jede Vermessung einer Landschaft wird Linien ziehen können und dennoch nicht die umfangreich-lebendige Vielfalt der Flora usw. wiedergeben können. Insofern sind Religionen nicht Ausdrucksformen von irgendwelchen Irrationalitäten, mit denen sich fromme Menschen in diesen Tagen sogar gut barbarisieren lassen, sondern eine „tiefer liegende Schicht von Vernunft“. Die epistemischen Rationalitätsformen bleiben – gerade wegen der Möglichkeit des Missbrauchs – in dieser Uneinholbarkeit von Religion entscheidend wichtig, auch wenn sie diese Tiefenschichten nie vollständig einholen.

Diese und andere grundsätzliche Überlegungen öffnen mit einleitenden Kapiteln den weiten Horizont, der in den folgenden Ausführungen zwar chronologisch geordnet, doch stets an entscheidenden philosophischen Herausforderungen sich orientiert. Gerade dadurch bleibt die Lektüre stets spannend und die Möglichkeit, einzelne Kapitel für sich zu studieren, gut erhalten. Vom antiken Denken ausgehend, folgen Schlaglichter auf die Grundlinien des Platonismus. Das Mittelalter wird mit den philosophischen Aufbrüchen in die Neuzeit geschildert, um hieran den Stand der Höhe dieses Denkens z.B. anhand eines „Nervus Probandi“, des Toleranzgedankens zu schildern, welche der Lessing‘schen Ringparabel weit vorgreift. Da Seubert diese Passagen im „abrahamitischen Kontext“ mit den Referenzen auf Maimonides und Ibn Rushd schildert, zeigt sich an diesen Gedankengängen, welchen Stellenwert die Religionsphilosophie für heutige Herausforderungen in der Verständigung zwischen den Weltreligionen haben kann. Diese Grenzgänge erfahren eine Weitung des Horizontes, wenn zum Ende des Bandes fernöstliche Religionswelten beleuchtet werden.

Einen weitereren Schwerpunkt des Bandes bilden die Kapitel zum Deutschen Idealismus mit den ebenso an den Herausforderungen geschilderten Problemskizzen: Vertiefend wird für diese Phase das sich verkürzende Aufklärungsverständnis aufgezeigt. Die „Flucht der Rationalität“ in die Alleinherrschaft des Begriffes wird mit deren Konsequenzen im Verhältnis zur Uneinholbarkeit der Religionen in den Blick genommen: Die bei Nietzsche kulminierende (Rationaliäts-)Geschichte anhand der Feststellung des Todes Gottes und die damit aufkommende Emphase der Religionen analysiert Seubert daher eingehend. Folgerichtig schließen sich über Referenzautoren wie W. Benjamin und Th. Adorno bzw. als Antidotum J. Derrida spannende Kontextualisierungen zur negativen Religionsphilosophie an.

Natürlich bleibt eine noch stringentere Darstellung der religionsphilosophischen Tiefensondierungen immer wieder der Wunsch des Lesers, doch ist dies bei der Fülle des Materials mit der Blickrichtung auf das Ganze überhaupt möglich? Wäre die entlastende Negierung dieses Anspruches aufgrund der heutigen religiösen Extremisierungen mit dem gängigen Diktum Adornos, das „Ganze sei das Unwahre“ die entlastende Lösung oder bleibt nicht doch der Hegel‘sche Anspruch erhalten, dass das „Ganze das Wahre“ sei, um letztlich nicht unterkomplex dem Phänomen der Religion zu begegnen? Dieser Gedanke selbst wird noch einmal im letzten Teil des Bandes aufgegriffen, um das Verhältnis von Religionsphilosophie und Metaphysik zu beschreiben. Hinzu kommen weitere aufschlussreiche Zugänge zur Phänomenalität von Religion, z.B. in der Kontextualisierung zur Kunst oder zur akuten Verhältnisbestimmung zwischen Religion und Politik.

So ist die von Seubert vorgelegte Religionsphilosophie ein hervorragender Versuch, Grundlinien des Ganzen als bahnbrechende Schneisen für die Orientierung zwischen Religion und Vernunft zu schlagen. Diese artikuliert er als vernunftgläubiger Philosoph und offenbarungsgläubiger – über konfessionalistische Einengungen weit hinausgehender – Christ. 

In einer Zeit, da einerseits das europäische Vernunftverständnis in dem Versuch, die Erkenntnisdimensionen des Glaubens zu vergessen, teilweise pathologische Vernunftweisen angenommen hat, andererseits die Negierung der Erkenntnisweisen der Vernunft dem Islam ungeheure Herausforderungen beschert und damit teilweise extrem pathologische Glaubenserscheinungen hervortreten lässt, sollten diese Grenzgänge im Spannungsfeld von Vernunft und Glaube Pflichtlektüre sein: Lesen!

Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft. 2013
708 Seiten
98,00 €
ISBN 978-3-8487-0351-7

 

Zurück