Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Hartmut Sommer: François Fénelon

Es ist die Zeit des Sonnenkönigs, der von Frankreich aus Maßstäbe setzt nicht nur für absolutistische Herrschaft, sondern für Weltdeutung und Lebensstil ganz noch im Zeichen selbstverständlichen Christseins: Versailles als Wahrzeichen und Vorbild für ganz Europa. Aber wer weiß noch, dass damals dort im Nordflügel einige Jahre lang ein faszinierender und vorbildlicher Glaubenslehrer als Prinzenerzieher tätig war und einen Zirkel frommer Frauen begleitete?

Mit dem Namen François Fénelon verbindet sich glaubensgeschichtlich ein höchst bedeutsamer Kirchenstreit, in dem es um die Mitte christlichen Glaubens und das Profil seiner Mystik ging – das letzte Mal übrigens, dass ein Glaubensthema unter den führenden Intellektuellen der Zeit wie z.B. dem Allrounder Leibniz in der europäischen Öffentlichkeit diskutiert wurde. Es ging, um es aktualisierend auf den Punkt zu bringen, um die eine Frage: Was heißt „Gott lieben“? Ist wirklich selbst- und absichtsloses Leben möglich, gar auf Dauer – und der Würde menschlicher Freiheit entsprechend? Und die Gegenfrage: „Was bringt mir das? Wozu ist das gut? Was hab ich davon?“ Theologisch gewendet also: Was heißt und wie geschieht „Gottesliebe“ als Grund und Mitte von Nächsten- und Selbstliebe, von gelingendem Menschsein überhaupt? Wie, wenn überhaupt, „arbeiten“ Gott und Mensch zusammen? Und: Was heißt „Gnade“, was geschieht wann und wie wirklich gratis? Muss nicht alles erst geleistet und bezahlt werden, auch in der Gottesbeziehung? „Amour pur“ hieß damals der Streitpunkt (und theologische Insider werden sich an den „Gnadenstreit“ kurz davor erinnern).

Schlüsselgestalt in diesen brisanten Fragen, in denen es letztlich um das Besondere des Christlichen in der werdenden Neuzeit geht, ist François-Armand de Salignac de La Mothe Fénelon – so sein ganzer Taufname –, die letzten 20 Jahre seines Lebens alsFürsterzbischof im nordfranzösischen Cambrai. Sein Leben (1651-1715) umfasst die gesamte Regierungszeit Ludwigs XIV. (1636 -1715). Hartmut Sommer zeichnet Fénelons äußeren und inneren Werdegang kenntnisreich nach, sehr gut informierend und anschaulich erzählend zudem. Spross eines verarmten südfranzösischen Adelsgeschlechtes, durchläuft der Hochbegabte eine glänzende Ausbildung und wird mit 26 Jahren zum Priester geweiht – von früh an geprägt durch die nachtridentischen Reformen z.B. der Priesterbewegung von St. Sulpice. Eine seiner ersten größeren Aufgaben ist bezeichnenderweise eine Missionskampagne bei den bzw. gegen die sog. Hugenotten zwecks deren Rekatholisierung. In der Öffentlichkeit bekannter wird der junge Fénelon durch sein Buch über die Mädchenerziehung, in dem er Leitungserfahrungen in einem großen Adelsinternat auswertet. Zeitgleich entstehen die ersten philosophisch-theologischen Veröffentlichungen, die ihn als hellwachen Zeitgenossen aktueller Zeitdebatten ausweisen. Besonders gilt das für die Auseinandersetzung mit der Philosophie Descartes‘ im originellen Entwurf von Malebranche und natürlich mit dem Jansenismus, einer reformiert zugespitzten Bewegung radikaler Christlichkeit im Anschluss an Augustinus und die Reformation. Sowohl die schulische Bildungsarbeit wie die ständige Seelsorge zeigen Fénelon als hochgeschätzten Pädagogen, Glaubensbegleiter und intellektuellen Gesprächspartner. Mit 38 Jahren wird er von Ludwig XIV. zum Erzieher seines jungen Enkels, des zukünftigen Thronfolgers, berufen und zieht in Versailles ein – immens gut vernetzt im Geflecht adliger Beziehungen. Zugleich bleibt er aufgrund seiner entschiedenen Christlichkeit deutlich auf Abstand gegenüber der selbstgefälligen und natürlich intriganten höfischen Gesellschaft, in der wie selbstverständlich noch Thron und Altar verbunden sind. Fénelon gehört zeitlebens zu diesem Ancien Regime mit der selbstverständlichen Loyalität zum König, dessen Herrschaftsstil und Kriegspolitik er freilich erstaunlich mutig kritisiert; sein ganzes Lebenswerk weist kritisch und mit spiritueller Explosivkraft darüber hinaus. Sein für den jungen Thronfolger geschriebener Erziehungsroman „Telemach“ wird ein pädagogischer Bestseller und gern gelesen bis in die Goethezeit.

In Versailles kommt es zur Begegnung mit Madame Guyon, und das wird fortan Fénelons Leben und Denken durchaus dramatisch bestimmen. Diese junge adlige Witwe vertritt aufgrund eigener Erfahrungen und auch Studien eine Auffassung von christlicher Spiritualität, in der die förmlich passive Gott-Empfänglichkeit im Glaubensvollzug extrem betont wird. Der Mensch könne und solle schließlich absolut nichts für sich wollen, in völliger Selbsthingabe solle er vielmehr sich und alles Gott überlassen, eben in „reiner Liebe“ in völlig selbstloser Offenheit alles geschehen lassen. Die Hintergrunderfahrung dabei ist, dass Gottes alles ist und der Mensch nichts – eine Diagnose, die natürlich leicht zur prinzipiellen Abwertung geschöpflicher Freiheit und menschlicher Eigentätigkeit führen kann, obwohl genau das Gegenteil intendiert ist. Bezeichnend ist der Kampfbegriff „Quietismus“ dafür, der bald für diese ebenso faszinierende wie extreme Gebetspraxis und -lehre geprägt wird – ersichtlich eine Position, die tendenziell sowohl die Glaubensvermittlung durch Kirche und Priesterschaft in Frage stellen kann wie auch die zunehmende Lebensart zugreifender Rationalität und frühkapitalistischer Vernutzungsmentalität demaskiert. Fénelon wird zum Freund und Anwalt von Madame Guyon, wohl unterscheidend zwischen ihrer überzeugenden Gesamtintention und unglücklichen Extremaussagen. Aber der Konflikt zwischen kirchlich-königlichem Establishment und subversiver religiöser Innerlichkeit wie auch individueller Freiheit ist – wie so oft im Christentum – programmiert: Er eskaliert bis hin zur Verhaftung von Frau Guyon in Frankreich und zur Zensurierung einiger ihrer Sätze in Rom (die freilich nie formell verurteilt wurden!), bis hin zur Verbannung Fénelons aus Versailles und zu seiner Abschiebung nach Nordfrankreich weit weg von Paris, immerhin als Erzbischof von Cambrai, wo er ungebrochen segensreich wirkt. „Im Hintergrund der vermeintlichen Sophisterei dieses theologischen Streits stand nämlich eine mächtig zum Durchbruch drängende historische Wende, die mit der zunehmenden Macht eines dem Erwerbsleben hingegebenen Bürgertums das individuelle Interesse selbst zum Grundbegriff des Sittlichen erhob.“ (274) Zwar hat sein Widersacher, der Bischof und Autor Jacques Bénigne Bossuet, mit seinem Widerspruch gegen die Lehre von der reinen Liebe politisch-kirchlich gesiegt, aber Fénelons absolut integre Persönlichkeit und Lebensführung, seine unermüdliche theologische Unterscheidungs- und Vermittlungsarbeit durch zahlreiche Veröffentlichungen und nicht zuletzt seine überzeugende Seelsorgearbeit und Diözesanführung machen ihn schon zu Lebzeiten zu einer Lichtgestalt.

Hartmut Sommers Biografie liest sich ungemein spannend und lehrreich – gerade wenn man den eingangs angedeuteten heutigen Problemkontext mitbedenkt, den der Autor erfreulicherweise gerade nicht aktualisierend ausschlachtet. Wie jedes gute Buch löst es natürlich Fragen aus: Ist Fénelon überhaupt ein Meister der Mystik oder doch eher der Mystologie, also selbst erfahren oder „nur“ tief gelehrt darin? Überhaupt: Was genau meint das abstrakt gebrauchte Substantiv „Mystik“, das ja damals gerade erst in Mode kommt und heutzutage ein inflationär gebrauchtes Sehnsuchtswort diffusen Inhalts in aller Munde ist? Ist damit womöglich einer Zweiklassen-Spiritualität zwischen vermeintlich Höchstbegabten und „Normalen“ das Wort geredet, die biblisch gerade nicht sein sollte? Eine noch stärker sozialgeschichtlich geprägte Kirchen- und Theologiegeschichte würde wohl stärker die Belange der nichtadligen Bevölkerung in den Blick nehmen und der „Kirche von unten“ nachspüren. Und bei der schnellen Verknüpfung von Aufklärung mit Hedonismus (274 u.ö.) kommen ebenfalls grundsätzliche Fragen historischer Hermeneutik ins Spiel. Glänzend kommt bei Sommer die faktische Verschränkung von politischen Machtinteressen und „ideologischen“ Kirchenbedürfnissen ans Licht, auf deren krummen Linien der Heilige Geist doch Wahrheit schafft – nicht zuletzt durch Glaubenszeugen und Gebetslehrer wie Fénelon. Marcel Proust nannte ihn mit Recht einen „sanftmütigen Anarchisten“ und Sommer spricht vom „asketischen Rebell“ (226). Fénelon gehört zweifellos zu den großartigen Lehrern des Christlichen, der sich vorherrschenden Trends um den Preis persönlicher Niederlagen und Demütigungen standfest verweigert. Denn er ist wie sein geliebtes Vorbild Franz von Sales von einer ungemein sympathischen Humanität geprägt, jedem Extremismus gerade im Religiösen abhold und im Einsatz für „eine lebbare Mystik … ohne Streben nach außerordentlichen Erfahrungen, als einfaches, liebendes Einlassen auf göttliche Führung, in stiller Einfalt und ohne krampfhaftes Räsonieren oder skrupulös eingehaltene äußere Rituale“ (365), aber eben auch mit kraftvoller Argumentation und entschiedener Positionierung. Sein großes Spätwerk „Abhandlung über die reine Liebe“ ist seit 2007 endlich auch auf Deutsch zugänglich.

Sommers Buch wird und möge dazu beitragen, diesen Zeugen des Christlichen genauer wahrzunehmen und in die gegenwärtige Suche nach authentischer Spiritualität aufzunehmen. Steht er doch an vorderster Front, wenn es darum geht, endlich das Verhältnis von Gott und Mensch nicht länger im Muster struktureller Konkurrenz zu lesen, sondern im Modell wechselseitig freigebender Liebe. Nie ist dann der Mensch freier und subjektiver, als wenn er sich in freier Selbstbestimmung selbst- und absichtslos verausgabt „für euch und alle“, in reiner Liebe also und entschiedenster Lebenstat. Das hat Konsequenzen für Gesellschaftsform, Kirchengestalt und Lebensstil.

Sanftmütiger Anarchist und Meister der Mystik
Aachen: Patrimonium-Verlag. 2022
410 Seiten m. s-w Abb.
28,00 €
ISBN 978-3-86417-192-5

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