Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Holger Brülls (Hg.): Markus Lüpertz - Neue Fenster für die Gützer Kirche

„Kunst kennt keine Provinz“ – so der Malerfürst Markus Lüpertz. Wir sind in der Provinz, im Dorf Gütz bei Landsberg, wenige Kilometer östlich von Halle. Im Zentrum die Kirche: ein im Kern romanischer Bau des 12. Jahrhunderts mit querrechteckigem Turm; in der Spätgotik kam der dreiseitige Polygonalchor hinzu; Ende des 18. Jahrhunderts folgte eine Barockisierung. Anfang des 20. Jahrhunderts erhält der Chor farbige, schon damals eher altmodische Buntglasfenster in historistischem Stil. Mitte der 1950er Jahre beginnt ein Abstieg, der sich nach Sturmschäden und Vandalismus rasant beschleunigt, so dass die Landeskirche die Dorfkirche von Gütz, in der 1540 die Reformation eingeführt wurde, 1972 aufgibt. 1997 endlich die Wende: Der Förderverein Gützer Kirche e.V. schaut nicht länger weg, sondern macht sich Schritt für Schritt an den Wiederaufbau. Jahre später trifft der Verein eine wegweisende Entscheidung: Die erhalten gebliebene Glasmalerei soll weder entsorgt noch rekonstruiert, sondern in Formen zeitgenössischer Kunst ergänzt werden. Zu einer Besichtigung eingeladen, gibt Wilhelm Derix, der Geschäftsführer von Derix Glasstudios in Taunusstein, den entscheidenden Hinweis auf Markus Lüpertz. Der legt 2012 die Entwürfe vor, am Reformationstag 2013 werden die Fenster eingeweiht. Und es wird wahr: Kunst kennt keine Provinz.

Intensiv hat sich der Künstler mit der Glasmalerei befasst, die als architekturgebundene Kunst das in einen öffentlichen Raum einfallende Licht moduliert. Für den Glaskünstler Lüpertz charakteristisch ist das Zusammenspiel von kräftiger Farbigkeit und expressiver Zeichnung. Die kräftige Kontur kommt zustande, indem er im Anschluss an die Tradition vom grafischen Element der Bleirute geradezu exzessiv Gebrauch macht. Im Übrigen ist sich Lüpertz der Bedeutung von Glasfenstern im Kirchenraum sehr wohl bewusst: Weil, so der Künstler bei der Einweihung seiner Fenster in St. Andreas / Köln 2010, „eine beliebige Austauschbarkeit von Glasfenstern gegen Sitte und Verantwortung ist“ und „die Kirche eine Arbeit für immer verpflichtet“, werden Glasfenster „für die Ewigkeit“ installiert. Sie öffnen die Augen für eine alteritäre Wirklichkeit. So in der katholischen Großstadt Köln – wie aber im protestantischen Dorf Gütz?

Von den Glasfenstern aus dem Jahr 1910 ging das untere Drittel verloren; Lüpertz hat die Füße von Jesus und Paulus mit kräftigen, nackten Füßen ergänzt und ihnen so einen Stand im 21. Jahrhundert gegeben. Von den beiden Reformatoren aus dem Jahr 1917 blieben nur die Köpfe und ihre florale Bekrönung erhalten: Beiden hat der Katholik Lüpertz überproportional große Hände verliehen, die auf ihr Wirken verweisen: Martin Luther beschriftet mit blauer Feder ein blaues Buch – wohl ein Hinweis auf seine noch heute wirkmächtige Bibelübertragung. Philipp Melanchthons geöffnete Hände zeigen einen roten Kreis und ein rotes Rechteck – ein Hinweis auf dessen intellektuelle Fähigkeiten? Der anmutige „Gützer Engel“ in der Chorachse ist ganz aus dem übrig gebliebenen Grisaille-Ornament entwickelt und zeigt die für den Künstler typische Verbindung von Farbe und Zeichnung.

Neuschöpfungen auf Grundlage der thematischen Vorgabe des Fördervereins sind die allegorischen Figuren des „Wegschauers“ und des „Wiederaufbauers“. Im nördlichen Seitenschiff platziert ist der „Wegschauer“ mit verächtlichem Gesicht und wegwerfender Geste; sein im unteren Drittel des Fensters befindlicher Kopf scheint geradezu wegzusinken; in den beiden oberen Dritteln über ihm wuchert reines geschwungenes Ornament. Im südlichen Seitenschiff ist der Halbakt des „Wiederaufbauers“ angebracht: Sein muskulöser Oberkörper, die kräftigen Hände und der nach oben gerichtete Blick sprengen fast die Rahmung. Wieder beschreiben die Hände die Person: Der rechte Arm und der aufgerichtete Daumen signalisieren Tatkraft; die linke Hand wischt den Schweiß von der Stirn. Im unteren Drittel des Fensters ist abermals ornamentales Muster zu sehen. – Natürlich spiegelt sich in den antithetischen Figuren die Geschichte der einst verwundeten und jetzt wieder genutzten Kirche. Beide repräsentieren aber auch zwei Menschentypen und stellen dem Betrachter die stille Frage: Willst du Wegschauer, willst du Wiederaufbauer sein?

Der liebevoll gestaltete Bildband präsentiert alle Glasfenster, zahlreiche Detailaufnahmen und einige Entwurfkartons in ausgezeichneter Qualität. Die instruktiven Beiträge informieren bündig über die Baugeschichte (Dorothee Honekamp-Könemann), ordnen die Gützer Fenster in den Kontext zeitgenössischer Glasmalerei ein (Holger Brülls) und berichten über die anspruchsvolle Zusammenarbeit zwischen Künstler und Werkstatt (Wilhelm Derix). Das Buch ist eine einzige Einladung nach Gütz, denn: Kunst kennt keine Provinz.

Landsberg: Verlag Förderverein Gützer Kirche e.V. 2014
56 Seiten m. farb. Abb.
14,50 €
ISBN 978-3-00-047030-1

 

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