Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Holm Tetens: Gott denken

Gott denken? Ein Versuch über rationale Theologie? Und das von einem Professor für theoretische Philosophie, der nach eigener Aussage den Kern des Christentums, die Inkarnation, „nicht wirklich versteht“, vom Scheitern der Gottesbeweise überzeugt ist, dem Wunderglauben eine Absage erteilt und sich lange zum Lager der Naturalisten zählte? Um es gleich vorwegzunehmen: Selten bekommt man eine solche dichte wie erhellende und dennoch verständliche Argumentation auf gut 90 Seiten geboten!

Holm Tentens betreibt rationale Theologie, die sich allein auf die Vernunft beruft und bewusst das Offenbarungswissen außen vor lässt. Sein „Versuch“ ist bescheidener als die klassischen Gottesbeweise: Der Gottesglauben soll als eine vernünftige Möglichkeit – genauer: als „vernünftige Hoffnung“ – rational begründet werden. Dialektisch rückbezogen bleibt Tetens‘ Theismus stets auf einen Antipoden, den unter seinen Kollegen offenbar weit verbreiteten Naturalismus. Warum wählt der Verfasser diese für Theologen eher ungewöhnlich anmutende Strategie?

Der Naturalismus vertritt, so der Verfasser, im Kern zwei Thesen: „Es gibt nur die durch die Wissenschaften erkennbare [materielle] Erfahrungswelt“ sowie „Menschen sind […] als geistige Subjekte nichts anderes als ein Stück kompliziert organisierter Materie“. Diese Position charakterisiert Tetens als eine Spielart der Metaphysik, weil sie ja über „das Ganze der Wirklichkeit und die Stellung des Menschen in ihr“ Auskunft gibt. Ein solcher Rahmen ist aber erforderlich, um Ergebnisse insbesondere der Naturwissenschaften interpretieren zu können und kann „deshalb durch Erfahrungen nicht widerlegt werden“. Weil Gott nichts Empirisches ist, schließt der Naturalismus von vornherein die Existenz Gottes und einen Theismus aus. Im Kapitel „Die Stagnation des Naturalismus“ arbeitet Tetens u.a. heraus, dass bislang überzeugende Brückenprinzipien zwischen dem Mentalen und dem Physischen fehlen. Es sind solche fundamentalen Erklärungsdefizite des Naturalismus, die nach Überzeugung des Verfassers einen „idealistischen Theismus“ stark machen.

Als endliche – durch unseren Körper und die Mitmenschen begrenzte – Ich-Subjekte können wir logisch und begrifflich widerspruchsfrei Gott als Möglichkeit denken, präziser: als unendliches – weder in seiner Erkenntnisfähigkeit noch in seinem Willen begrenztes – Ich-Subjekt. Aus dieser Definition leitet Tetens u.a. ab, dass Gott erkennt, was immer der Fall ist (Allwissenheit), und dass alles, was Gott denkend will, auch existiert – wie unsere Welt, der er die Naturgesetze einschreibt.

Eine weitere Annahme kommt hinzu: Gott denkt (= erschafft) Menschen als endliche Ich-Subjekte. In der Welt handeln und sie erforschen können wir nur dann, wenn sie durchgängig von Naturgesetzen bestimmt ist – was Wunder ausschließt. Gott will Menschen als vernünftige Lebewesen, nicht als Automaten, was mit Blick auf Gott eine bedeutsame Konsequenz hat: Er kennt zwar alle physischen Bedingungen des Mentalen, kann aber nicht vollständig voraussagen, was ein Mensch denkt und beabsichtigt. Darin sieht Tetens keinen Widerspruch zu Gottes Allwissenheit, weil ein solches Vorauswissen dem Begriff eines vernünftigen Ich-Subjekts widerspräche; so kann Gott auch keinen verheirateten Junggesellen schaffen.

Diese eher theoretischen Überlegungen spitzen sich existenziell zu, wenn sie mit dem moralischen Problem der Übel und des Leidens in der Welt verknüpft werden. Die existenzielle Botschaft des Naturalismus ist niederschmetternd: Sie besteht ja darin, dass keine Untat gesühnt wird und letztlich alles unterschiedslos „dem großen gleichgültigen Vergessen anheimfällt“. Kann der Theismus Gott, das unendliche Ich-Subjekt, auch als Erlöser denken, der die Übel und Leiden in der Welt endgültig überwindet?

Der rationale Theologe lehnt jede positive Theodizee – eine Rechtfertigung der Leiden und Übel zugunsten eines höheren Zwecks – ab und stellt die menschliche Freiheit ins Zentrum seiner Beweisführung: Wenn Gott die Menschen als freie Ich-Subjekte schafft und ihre Entscheidungen im Voraus nicht wissen kann, dann muss er die menschliche Entscheidung für das Böse zulassen – mit der Folge, dass wir, gestützt auf die Naturgesetze, anderen physisches Leid zufügen können. Gott will zwar nicht direkt das Böse, er will und kann es aber nicht verhindern! Büßt Gott damit nicht seine Souveränität ein?

In diesem Kontext zieht der Verfasser einen aus der Philosophie des Geistes bekannten Terminus heran: Gott kann die bestehenden Naturgesetze durch Emergenz – durch bislang unerwartete und unvorhersehbare neuartige Eigenschaften – ergänzen und auf diese Weise mit seiner Schöpfung interagieren und ihre Zukunft offenhalten. Ein so gedachter Gott ist kein deistischer Gott. – Hinzu kommen Überlegungen zu einer „rationalen Eschatologie“: Erlösung lässt sich nur denken, wenn der Tod nicht das letzte Wort behält und Versöhnung stattfindet. Versöhnung indes setzt ein Gericht voraus, das die vergangenen Leiden nicht vergisst und die Wahrheit über jeden Menschen an den Tag bringt, so dass Vergebung überhaupt erst stattfinden kann. Dennoch, hält Tetens ausdrücklich fest, bleibt das Ausmaß des Leidens in der Welt eine offene Frage, auf die freilich auch der Naturalismus keine Antwort hat.

„Bloßes Wunschdenken“ – so lautet die Kritik des Naturalismus an der tröstlichen Metaphysik des Theismus. Wie ist dieser Einwand zu bewerten? Der Naturalismus ist weder theoretisch – das Geistige konnte bislang nicht als komplex organisierte Materie rekonstruiert werden – noch moralisch – in Zukunft wird alle menschliche Geschichte spurlos verschwunden sein – überzeugend. Diese Defizite sprechen für den Theismus, der den Menschen als Geschöpf Gottes versteht, eine offene Zukunft erhofft und eine moralisch befriedigendere Antwort auf die Übel und das Leid bereithält. Deshalb ist es, so Tetens, im Vergleich mit dem Naturalismus vernünftiger, auf einen Erlösergott zu hoffen und entsprechend zu leben. Sollte der Theismus wahr sein, wird es der Naturalist nach seinem Tod wissen, sollte der Naturalismus wahr sein, werden weder er noch der Theist es je wissen.

Den Rezensenten überzeugt der klare Aufbau der Beweisschritte, die mehrfach in Argumentationsschemata konzentriert werden, sowie das Bemühen um Verständlichkeit. Das schmale Buch, das einige „Gedankenarbeit“ abverlangt, kann durchaus in Kursen der Oberstufe in den Fächern Philosophie und Religion erarbeitet werden

Aus christlicher Perspektive anregend sind Tetens’ Darlegungen etwa zum Thema Gericht, das trotz berechtigter Kritik an einer Drohbotschaft nicht weichgespült werden darf, oder zur Theodizeeproblematik, die sich auch mit dem Argument des freien Willens nicht auflösen lässt. Dagegen hat die Verwendung des Begriffs Emergenz, mit dem der Philosoph das Interagieren Gottes mit seiner Schöpfung zu bestimmen versucht, den Charakter einer Joker-Karte. So berechtigt Tetens’ Kritik an Wundern ist, könnten nicht auch die Wunder Jesu mit göttlicher Emergenz begründet werden? Zu diskutieren bleibt, ob die Argumentation des Verfassers geschwächt würde, wenn ihre dialektische Bindung an den Naturalismus entfiele. Er jedenfalls würde „Partei für den Naturalismus“ ergreifen, ließe sich „erfahrungswissenschaftlich solide nachweisen“, dass das Mentale sich doch aus dem Physischen herleiten ließe.

Trotz, ja wegen mancher offener Fragen ist Holm Tetens’ „Versuch über rationale Theologie“ eine überaus anregende Lektüre und als Erstveröffentlichung zweifellos ein Highlight in der fabelhaften Reihe „Was bedeutet das alles?“ des Reclam Verlages.

 

[Was bedeutet das alles?]

Stuttgart: Reclam Verlag. 2015

96 Seiten

5,00 €

ISBN 978-3-15-019295-5

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