Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Hubertus Lutterbach: Vom Jakobsweg zum Tierfriedhof

Wie Religion heute lebendig ist

Allenthalben begegnen wir heute gelebter Religiosität unter christlichem Vorzeichen. Nach der Lektüre von Hubertus Lutterbachs Untersuchung zu gegenwärtigen Phänomenen populärer Religion scheint die Säkularisierungsthese, wonach Religion immer weiter verdrängt werde, eine breite Schlagseite zu bekommen. Weil sich unsere Gesellschaft durch Individualität, Streben nach Ganzheitlichkeit und einer Skepsis gegenüber etablierten Institutionen auszeichnet, lassen sich diese drei charakteristischen Elemente an gelebter Religiosität ablesen. Dort, wo Religion diese drei Elemente berücksichtigt, ist sie lebendig. Religion ist heute deshalb anders präsent als noch vor 50 Jahren. Aber wie? 

Immer weniger in traditioneller Form, bei der den religiösen Leitlinien, die die beiden Großkirchen vorgeben, bereitwillig gefolgt wird. Freilich kann man fragen, ob die Leitlinien überhaupt jemals wirklich bereitwillig angenommen wurden, oder ob es nicht vielmehr gesellschaftliche Konventionen waren, denen gehorcht wurde. So wie gelebte Religiosität vor 50 Jahren mit gesellschaftlichen Trends verbunden war, so ist sie es auch gegenwärtig. An zehn ausgewählten Fällen zeigt Lutterbach, wie sich Religiosität heute unter den oben genannten Vorzeichen bemerkbar macht. Wir pilgern nicht nach Santiago, um dort den Reliquien von Jakobus zu verehren, sondern weil wir uns selbst suchen und finden wollen. Der hoffnungsspendenden Traueransprache einer Ministerpräsidentin wird mehr mediale Öffentlichkeit geschenkt als den Ansprachen der kirchlichen Amtsträger. Anselm Grün ist unter anderem so erfolgreich, weil er nicht als Vertreter der Kirche auftritt, sondern als authentisch lebender, die Sprache der Menschen sprechender Mönch. Das Unfallkreuz am Straßenrand zeigt vielfach eine größere Verbundenheit mit dem Verunglückten als das Grab auf dem Friedhof. Obwohl sich in der Gesellschaft eine deutliche Distanz gegenüber den etablierten Kirchen breitmacht, greifen alle Phänomene, ob bewusst oder unbewusst, auf Elemente aus der christlichen Tradition zurück. Auf diesen Rückgriff aufmerksam zu machen, ist ein großes Verdienst dieses Buches. Die christliche Tradition spielt nach wie vor eine große Rolle, sie wird nur unter andern Gesichtspunkten sichtbar. Das Motiv der heute an vielen Brücken zu findenden symbolischen Liebesschlösser zum Beispiel, mit Hilfe derer Verliebte sich ewige Treue geloben, geht auf eine hochmittelalterliche Tradition zurück, in der die ewige Einwohnung Jesu Christi im Herzen des Menschen ausgedrückt wird. „…du bist beslozzen in minem herzen, verlorn ist das sluzzelin…“ 

Die christliche Tradition ist dort lebendig, wo sie sich subjektfreundlich zeigt und wo das persönliche Glück nicht aus dem Blick gerät. Sie kann dort zu einem gelingenden Leben beitragen, wo das persönliche Leben in einen übergreifenden Lebenszusammenhang einbettet wird. Wertschätzung findet sie dort, wo Amtsträger als integre Personen im Vordergrund stehen und die Institution dahinter zurücktritt. Die Kirchen, so das Plädoyer des Verfassers, sollten deshalb viel stärker ihre Traditionen unter den drei charakteristischen Elementen (Individualität, Ganzheitlichkeit, Skepsis gegenüber Institutionen) durchsuchen und ins Heute zu bergen versuchen.

Dabei sollten, und hier wäre Lutterbach zu ergänzen, die drei charakteristischen Elemente nicht kritiklos übertragen werden. Individualität zum Beispiel ist fraglos ein wichtiges Merkmal unserer Gesellschaft. Doch in welchem Sinn soll diese Individualität sich in den Kirchen widerspiegeln? Welche Form von Individualität ist gut und welche ist aus christlicher Sicht abzulehnen? Dass persönliches Glück als billiges Wellnessvergnügen interpretiert wird, ist jedenfalls nicht Teil der christlichen Botschaft, und so versteht sie freilich auch Lutterbach nicht. Individuelles Glück im christlichen Sinne findet der, der das Glück des Anderen will und nicht mit einem Auge auf das eigene Glück schielt. Insofern ist zu fragen, ob die drei charakteristischen Elemente nicht notwendig eines prüfenden Maßstabes bedürfen. Wird Individualität jedoch im Sinne einer ernsthaften Suche nach sich selbst verstanden, sollte sie wertgeschätzt werden. Denn die Erfahrung des eigenen Selbst kann eine Bedingung dafür sein, um sich den Fragen zu öffnen, die über den eigenen Horizont hinausgehen. In diesem Sinn könnten die gegenwärtigen Trends durchaus fruchtbar werden.

Kevelaer: Butzon & Bercker. 2014
354 Seiten
24,95 €
ISBN 978-3-7666-1862-7

 

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