Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Ingolf U. Dalferth: Wirkendes Wort

Ein für die evangelische Theologie dringend notwendiges Buch hat Ingolf U. Dalferth, emeritierter systematischer Theologe der Universität Zürich, geschrieben, das den Blick auf einen sehr sensiblen Punkt des evangelischen Glaubens lenkt. Mit sola scriptura (Allein die Schrift!) ist der Reformation ein Profil erwachsen, das heute kaum noch verstanden wird. Für die einen ist nach der historisch-kritischen Durchsicht der Bibel nur noch ein historisches, kulturell sicher sehr bedeutendes Dokument geblieben; ihnen kommt es sowieso im Glauben mehr auf die eigene persönliche religiöse Erfahrung als auf irgendwelche Bibelverse an. Andere wollen die Bibel erst gar nicht einer scheinbar zerstörerischen Wissenschaft ausliefern und klammern sich an Inspirationstheorien. Der Rückgang der Buchkultur und das Aufkommen der neuen Medien tun ihr Übriges, um die „Schrift“ zu marginalisieren.

Verirrung und Verwirrung im Umgang mit der Bibel ist für Dalferth eine der Hauptursachen dafür, dass die evangelische Theologie Gottes Gegenwart und Wirken heute kaum zur Sprache zu bringen vermag. Und das Problem wird umso eklatanter, als der Theologie gegenüber der weltweiten pentekostalen Bewegung oft nicht mehr einfällt, als deren „Unwissenschaftlichkeit“ zu kritisieren, und es bei einer bloßen Kenntnisnahme besonderer Erfahrungen belässt.

Schon der Untertitel des Buches „Bibel, Schrift und Evangelium im Leben der Kirche und im Denken der Theologie“ weist darauf hin, dass es Dalferth darum geht, die Unterscheidung von Bibel, Schrift und Evangelium einzuschärfen. Das läuft aber nicht auf abstrakte Begriffsklärungen heraus, sondern die Unterscheidungen sind notwendig, um wieder das Ohr für das „wirkende Wort“ frei zu bekommen, durch das allein evangelische Theologie Halt und Orientierung in der Gegenwart findet. Ein katholischer Leser wird vielleicht resümieren, dass damit nur das evangelische Grundproblem einer der Kirche vorausgesetzt geglaubten Heiligen Schrift zu Tage tritt. Doch dass die katholische Lösung einer Bindung der Schrift an die Glaubwürdigkeit der Kirche wiederum ihre eigenen Probleme mit sich bringt, dürfte gerade heute nicht zu übersehen sein.

Das Buch von Dalferth baut ein paar Hürden auf, die seiner zu wünschenden Rezeption im Wege stehen. Da wären zum einen die Textlänge von fast 450 eng bedruckten Seiten und zum anderen die teilweise nur für Fachtheologen interessanten Auseinandersetzungen mit kirchlichen Dokumenten oder anderen Theologen zu nennen. Doch ist das Buch im besten Sinne als Lesebuch zu gebrauchen, in dem man sich einzelne Kapitel heraussucht. Da der Autor sowieso seine Grundgedanken immer wieder neu durchdekliniert, wird man schnell den Faden des Buches gefunden haben. Sicher sind die einzelnen Kapitel durchaus gehaltvoll und lassen sich nicht en passant durchlesen, selbst wenn der Autor immer wieder zu griffigen und pointierten Urteilen findet. Aber der Leser wird mit Einsichten in die Grundstruktur evangelischer Theologie reich belohnt werden.

Wer die Schwäche evangelischer Theologie in der gegenwärtigen Situation, aber auch ihre von der Reformation mitbekommene Stärke verstehen will, dem sei dieses Buch empfohlen.

Bibel, Schrift und Evangelium im Leben der Kirche und im Denken der Theologie
Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt. 2018
462 Seiten
38,00 €
ISBN 978-3-374-05648-4

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