Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Jacques de Saint Victor: Blasphemie

Geschichte eines „imaginären“ Verbrechens

In nahezu allen normativen Leitkulturen bekannter Weltreligionen gilt die Blasphemie als strafbewehrtes schweres Delikt. Das alte Judentum etwa forderte dafür die Höchststrafe, den Tod durch Steinigung (Lev 24), geriet doch die Gotteslästerung ins Kreuzfeuer gleich mehrerer Gebote des Dekalogs: Es war zunächst ein Verstoß gegen das monotheistisch-exklusive erste Gebot, das die unantastbare Heiligkeit Gottes herausstellt; dann ein Verstoß gegen das Bilderverbot, das jede endlich-menschliche Vorstellung – auch und gerade eine lästerliche – vom Göttlichen tabuisiert und schließlich ein Verstoß gegen das Verbot des Namensmissbrauchs.

Konträrer könnte die Position der aufklärerischen-laizistischen Rechtsphilosophie – die der Autor nie explizit, aber implizit deutlich vertritt – nicht sein, die das überkommene Religionsdelikt als (bloß) „imaginäres“ Verbrechen (so der programmatische Untertitel) sieht. Und in der Tat: Wesentliche Aspekte des Phänomens Blasphemie entziehen sich objektiven juristischen Kategorien. Zunächst liegt ein weites Feld blasphemischen Handelns vor: Es kann geschehen im Bild, im Wort und im Handeln (letzteres in unseren Tagen gerne durch performative Akte von Künstlern, die sich mit kalkulierten Tabubrüchen gegen emotional hochbesetzte Religiosa Publizität erhoffen). Zudem sind die Opfer der Blasphemie nicht eindeutig benennbar: Ist es Gott / die Gottheit selber, die unter diesem Delikt zu „leiden“ hätte, sind es Ideen, religiöse Vorstellungen, die Ziel der Schmähungen wären, oder die „Träger“ dieser Vorstellungen, d.h. die Gläubigen?

Auch das Christentum sieht sich von ungerechten interessegeleiteten Blasphemie-Urteilen betroffen: Schließlich war es ja Jesus selbst, der wegen Gotteslästerung zum Tode verurteilt wurde; und noch heute droht Christen – vor allem in islamisch dominierten Staaten wie z.B. Pakistan und Indonesien – durch die zweifelhafte Anwendung von Blasphemie-Gesetzen Leiden und Tod. So verwundert es nicht, dass angesichts dieser problematischen Gemengelage in der europäischen Neuzeit – zuerst im nachrevolutionären Frankreich – Blasphemie-Gesetze ein Auslaufmodell darstellten. Aus dieser Perspektive zeigt sich der 1963 geborene französische RechtshistorikerJacques de Saint Victor schockiert, dass eine heutzutage längst überwunden geglaubte „Moorleiche“(10) aus dem Morast der Vergangenheit ihr obskures Haupt wieder erhebt und ein Comeback erlebt.

Im Hauptteil seiner Studie lässt der Autor die Geschichte des Phänomens Blasphemie von biblischen Zeiten über das Mittelalter und die Neuzeit bis zur Gegenwart Revue passieren: Die alttestamentliche Position wurde bereits skizziert. Das frühe Christentum wendete den Blasphemie-Vorwurf polemisch gegen das Judentum, das sich mit der Kreuzigung Jesu der schlimmsten Gotteslästerung schuldig gemacht hat. Hier, so der Autor, zeigt sich exemplarisch, dass die Bezichtigung der Blasphemie als „Kriegswaffe“ (17) gegen die je andere Religion instrumentalisiert wird. Im Mittelalter übernehmen zunehmend fürstliche bzw. königliche Organe – weniger die Kirche selbst – die Strafverfolgung der Gotteslästerung. Offiziell sieht es der christliche Herrscher als seine vornehmste Aufgabe an, die Souveränität Gottes zu schützen; auf dem Hintergrund des Gottesgnadentums bekommt die Blasphemie eine politische Dimension. Die Konfliktlage verschärft sich im Reformationszeitalter: Die absolutistische Verfolgung der Blasphemie wird ein identitärer Marker, der das Zerbrechen der religiösen und politischen Einheit verhindern soll. Erst das aufgeklärte 18. Jahrhundert bringt europaweit „ein erfreuliches Intermezzo“ (47) für die strafrechtliche Beurteilung: In der Perspektive des gewaltenteiligen Ansatzes von Montesquieu trennt man die Sphären der Religion und der Politik. Die weltlichen Gesetze werden als ungeeignet angesehen, die „Gottheit zu rächen“, man ist (höchstens im volkserzieherisch-utilitaristischen Sinne) bedacht „darauf hinzuwirken, dass die Gottheit geehrt werde“ (48). Der Staat soll nur eingreifen, wenn durch schwere gewaltaffine Blasphemie der gesellschaftliche Friede gestört wird – eine Position, die noch die heutige deutsche Rechtsprechung bestimmt (§ 166 StGB). 1791 schafft das republikanische Frankreich den Straftatbestand der Blasphemie zugunsten der Meinungs- und Pressefreiheit gänzlich ab – dieser „bahnbrechende“ (78) Schritt wird 1881 noch einmal bestätigt und bildet einen „Eckpfeiler des republikanischen Geistes“ (79).

In einem Schlusskapitel reflektiert der Autor die sich überstürzenden Ereignisse seit „9/11“: die Kette von barbarischen Terrorakten fundamentalistischer Moslems auf der einen Seite und die für die Anhänger des mekkanischen Propheten als blasphemisch eingeschätzten publizistischen Reaktionen wie die berühmt-berüchtigten Mohammed-Karikaturen oder die satirischen Beiträge von „Charly Hebdo“. In diesem Kontext „entwickelten sich die islamistischen Bewegungen zu eifrigen Nachfolgern der fundamentalistischen Katholikenverbände im Kampf gegen die Blasphemie“ (99). Unterstützung bekommt diese Bewegung von hyperkritischen Intellektuellen und rassistischen Aktivisten, die im Jahre 2004 den Begriff „Islamophobie“ kreierten und „nach dem Ende der großen Erzählungen auf der Suche nach einem Ersatzproletariat waren“ (104): Blasphemie sei gegen die Religion der herrschenden Klasse, das Christentum, legitim gewesen, gegen den Islam sei dies jedoch als neokolonialistisch-rassistisch zu verurteilen. Der Autor hält diese Entwicklung für eine „geistige Verwirrung, ja Humbug“ (107), damit seien Jahrhunderte des Fortschritts in den Freiheitsrechten zurückgenommen und umsonst gewesen. Doch nicht nur der Islam profitiere von dieser reaktionären Tendenz: „Die anderen Religionen warten schon begierig, dass auch sie der Segnung dieser neuen Moral teilhaftig werden.“ (121) Vor allem der moslemischen Bevölkerungsgruppe sei zuzumuten, so der Autor volkserzieherisch, in ihrer freiheitlichen Entwicklung Fortschritte zu machen und sich aus dem Gefängnis ihrer vernagelten Identitäten zu befreien. Die Blasphemie-Freiheit der säkularen Gesellschaft sei alternativlos.

Was ergibt sich aus dieser Lektüre für den persönlichen Erkenntnisgewinn und das praktische Leben der Kirche? Zunächst legt der Autor systematisch und historisch überzeugend dar, dass die Blasphemie eine sensible Schnittstelle zwischen traditionsbewussten Religionen und säkularen Staatswesen ist. Blasphemie ist nicht nur ein geistiges Konstrukt (insofern mehr als „imaginär“), sie fungiert vielmehr im geschichtlichen Längsschnitt seismografisch als Identitätsmarker und Waffe der verschiedenen Religionen gegen andere Weltanschauungen. Für den Umgang der christlichen Kirchen mit dem Phänomen Blasphemie legen sich meines Erachtens folgende prinzipiellen Ratschläge nahe: Zunächst gilt staatspolitisch für Christen, dass sie hierzulande in einer offenen pluralen Gesellschaft leben, in der (auch) sie einer Duldungspflicht unterliegen: Man muss den (legitimen) Freiheitsgebrauch der anderen – selbst wenn es weh tut – ertragen; dies nicht nur in juristischer Perspektive, sondern auch im Blick auf eine redliche intellektuelle Selbstachtung: Es gilt, nicht nur zähneknirschend mit der geballten Faust in der Tasche, ein tolerantes Minimum an innerer Distanz zu ureigenen Überzeugungen aufzubringen. Eine der Früchte einer souveränen selbstkritischen Haltung ist der Humor – es ist sicher kein Wunder, dass gerade in katholischen Landstrichen Fastnacht Tradition und Konjunktur hat. Selbstironie und Lachen helfen gegen Gewaltphantasien! Schließlich nimmt man vermutlich konfliktsuchenden Provokateuren und chronischen Tabubrechern am ehesten den Wind aus den Segeln, wenn sich die Glaubensgemeinschaft um eine authentische und überzeugende Darstellung christlicher Existenz in Gedanken, Worten und Werken bemüht. Dubioses Finanzgebaren, bischöfliche Prunkbauten und abscheuliche Missbrauchsfälle hingegen wirken absolut kontraproduktiv.

Aus dem Französischen von Michael Halfbrodt
Hamburg: Hamburger Edition. 2017
139 Seiten
20 Euro
ISBN 978-3-86854-308-7

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