Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Jakob Matthiessen: Tod oder Taufe. Die Kreuzfahrer am Rhein

Mainz, im Sommer des Jahres 1096: Christliche Kreuzfahrer belagern auf ihrem Weg nach Jerusalem die Stadt Mainz und fordern alle Juden zur Taufe auf – falls sie sich weigern, droht ihnen der Tod. Dies ist das Setting der Erzählung, die sich im Wesentlichen auf die Geschehnisse an sechs heißen Junitagen konzentriert und somit äußerst dicht konzipiert ist. Basierend auf historischen Ereignissen während des ersten Kreuzzugs, aber erzählerisch verdichtet und um fiktive Elemente und Figuren ergänzt, legt Jakob Matthiesen hier seinen ersten Roman vor.

Die Schauplätze der Handlung wechseln geschickt und mit Sinn für Spannungsbögen immer wieder zwischen den Geschehnissen im Lager der Kreuzfahrer und den Ereignissen in der Stadt beziehungsweise in der jüdischen Gemeinde und bei ihren christlichen Verbündeten in der Bischofspfalz. Als Handlungs- und Sympathieträger fungieren auf der Seite der jüdischen Gemeinde Rabbi Chaim, seine Frau Jehudith und ihre Familie. Mit ihnen erlebt der Leser das bunte Treiben in der Stadt, die Vorbereitungen für die Hochzeit von Jehudiths Schwester Sarah sowie die Sorgen des Rabbis und des jüdischen Rates vor dem Herannahen der Kreuzfahrer. Zu ihnen gesellt sich Domdekan Raimund, der mit Chaim befreundet ist und gemeinsam mit ihm die Psalmen aus dem Lateinischen und Hebräischen übersetzt. Die offene, von gegenseitiger Toleranz und Respekt geprägte Freundschaft der beiden Theologen mutet etwas „modern“ an, wie der Autor im Nachwort selbst anmerkt (612), verstärkt aber geschickt die Empathie seitens des Lesers und legt die theologischen Verbindungen von Christentum und Judentum offen. Mit Raimund erhält der Leser auch Einblick in die Abläufe und das religiöse Leben am Bischofshof, die Planungen für die Stadtverteidigung und das kirchenpolitische Umfeld von Kreuzzügen und Investiturstreit im Jahr 1096.

Auf der Seite der Kreuzfahrer steht Peter im Mittelpunkt, ein junger Bauernsohn aus Gerstendorf bei Oppenheim am Rhein, der auf Betreiben des intriganten Priesters Rotkutte seine Familie verlässt und sich dem Zug der Ritter und Bauern anschließt. Peter träumt von der Eroberung Jerusalems, einer schönen Frau und großem Reichtum, hat jedoch weder vom Kämpfen noch vom Stadtleben irgendeine Ahnung. In seiner Einfachheit wirkt er zuweilen sympathisch, wenn er den Umgang mit Geld erlernt und die Technik eines Ziehbrunnens erfragt oder sich im Mainzer Straßengewirr verläuft. Doch verfällt er auch in Eroberungswünsche und antijüdische Ressentiments. Ahnungslos und leicht zu beeinflussen gerät er in die Fänge Rotkuttes und des Heerführers Emicho, die ihn für ihre Zwecke ausnutzen. So wird er zur Schachfigur in einem politischen Spiel, das er nicht versteht, und ist von Träumen und Ängsten hin- und hergerissen. Geschickt konstruiert kreuzen sich die Wege Peters, Rotkuttes, Raimunds und von Chaims Familie mehrfach im Lauf der Geschichte.

Die Darstellung zeichnet detailreich das jüdische Leben und den Alltag der Kreuzfahrer nach und spart nicht mit teils drastischen Einzelheiten: Hautnah erlebt der Leser die Verzweiflung der jüdischen Gemeinde, deren Mitglieder sich beim Vordringen der Kreuzfahrer auf eine mögliche freiwillige Selbsttötung vorbereiten und deren Theologen um die korrekte Auslegung von Torah und Talmud vor dem Hintergrund der drohenden Zwangstaufe ringen. Greifbar wird auch die Ohnmacht der christlichen Verteidiger, die mit Rotkutte und Emicho theologisch und militärisch um eine Lösung streiten. Eine Hetzrede Rotkuttes am Römischen Theater vor den Toren von Mainz eskaliert ins Fanatische – an seiner Figur zeigt sich der Abgrund eines intoleranten religiösen Fundamentalismus, der mit Lügen, Intrigen und Vorurteilen den Antijudaismus der Kreuzfahrer schürt. Als diese nach einer perfiden Intrige Rotkuttes Mainz erstürmen, richten sie unter den jüdischen Bürgern, die es nicht in die Bischofspfalz als letzten sicheren Ort geschafft haben, ein Blutbad an und verwandeln die Innenstadt in ein Leichenmeer. Die Grausamkeit dieses skrupellosen Vorgehens, das Raub, Mord und Vergewaltigung einschließt und an einigen Stellen detailliert geschildert wird, ist mitunter schwere Kost.

Der Erzählfluss wartet mit einigen unerwarteten Wendungen auf, mehrere Spannungsbögen bleiben bis kurz vor Schluss offen. Werden es Chaim und Raimund, deren Freundschaft im Laufe der Geschehnisse auf eine harte Probe gestellt wird, schaffen, die in die Bischofspfalz geflüchteten Mitglieder der jüdischen Gemeinde zu retten und vor der scheinbar ausweglosen Alternative „Tod oder Taufe“ zu bewahren? Oder werden die Kreuzritter die Bischofspfalz erstürmen? Und wird Peter wie erträumt ruhmreich nach Hause zurückkehren?

Jakob Matthiesen hat mit seinem ersten Roman eine durchweg flüssig lesbare und spannungsreiche Erzählung über die Zeit der Kreuzzüge, die Pogrome und deren Folgen für das Judentum am Mittelrhein vorgelegt und dabei die Fragen nach religiösem Fundamentalismus, der Kraft der Toleranz und der Freundschaft zwischen den Religionen aufgespannt. Beigegeben ist dem Text ein umfangreicher Anhang mit drei Karten, einem Glossar der wichtigsten Begriffe aus dem jüdischen und christlichen Kultbereich, ausführlichen Erläuterungen zur Historizität respektive Fiktion der Erzählung und zur Geschichte von Antijudaismus und Antisemitismus sowie Nachweisen von verwendeten Zitaten und Hinweisen zur Forschungsliteratur. Das beigefügte Material ermöglicht so eine vertiefende Erschließung und historische Einordnung des literarisch sehr gelungenen Romans, der dem heutigen Leser die Judenpogrome während des ersten Kreuzzugs in dramatischer Weise ins Bewusstsein rückt.

Historischer Roman
Meßkirch: Gmeiner Verlag. 2021
653 Seiten
16,00 €
ISBN 978-3-8392-0083-4

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