Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Jan-Heiner Tück / Tobias Mayer (Hg.): Die Kunst umspielt das Geheimnis

 

Kaum ein Ereignis hat in den vergangenen Monaten die weltweite Kunst- und Literaturszene so sehr aufgewühlt, wie die Verleihung des Nobelpreises für Literatur im Dezember 2019 an Peter Handke. Während das Nobelpreiskomitee in seiner Begründung mit Handke einen der einflussreichsten Schriftsteller Europas nach dem Zweiten Weltkrieg lobte, der „das Ungesehene einfängt und uns zum Teil davon macht“, regte sich auf Grundlage einer Vielzahl politischer Texte Handkes, in denen er sich in apologetischem Modus zu den Gräueltaten des Jugoslawienkrieg äußerte, oder diese gar leugnete, ebenso vehementes Unverständnis und Kritik für diese Entscheidung. Mit seinen Texten polarisierte Handke schon immer – mit dem ihn nun bekleidenden Nobelpreis wird er es unaufhörlich weiter tun.

Für Jan-Heiner Tück und Tobias Meyer wird der österreichische Schriftsteller und heutige Nobelpreisträger zu einem wegweisenden Impulsgeber für ihren im Sommer 2019 im Herder-Verlag erschienen Sammelband „Die Kunst umspielt das Geheimnis. Literarische Annäherungen“. Der Band umfasst die seit ihrer Gründung 2016 veranstalteten Vorlesungen namhafter Autorinnen und Autoren im Rahmen der „Poetikdozentur Literatur und Religion“ an der Universität Wien. Der nun vorliegende und vierte Band dieser Reihe dokumentiert in chronologischer Reihenfolge die Vorträge von Dichterinnen und Dichtern in dem Zeitraum von Oktober 2017 bis Juni 2018.

Neben einer Einleitung der Herausgeber versammelt der Band sechs Vorlesungen und wird sowohl in der Gesamtanlage wie auch den einzelnen Beiträgen konsequent von der Kategorie des Unverfügbaren geleitet. Die titelgebende Aufzeichnung Handkes „Die Kunst umspielt das Geheimnis“ wird für die Herausgeber hierbei zum Anlass, das Verhältnis von Kunst und Religion neu zu reflektieren. Mit Handkes Blick der Verdichtung von Weltphänomenen, der sensiblen Wahrnehmung von Momenten profaner Wirklichkeit und deren metaphysischer Interpretation wird überzeugend die intensive Nähe von ästhetischer Transzendenz und religiöser Erfahrung angebahnt, die zu dem bestimmenden Leitmotiv des Sammelbandes wird.

Als virtuoser Erzähler eröffnet Michael Köhlmeier die Reihe der Vorlesungen, die zu genuinen Kunstwerken werden, indem er in außerordentlichem Einfühlungsvermögen die Nähe von Gut und Böse in der Scheinwirklichkeit von Märchen gekonnt auszuloten versucht. Andreas Meier unternimmt im Anschluss zarte, poetische Gehversuche der Gottesrede mit dem berührenden Sprachbild „Und Gott fiel die Leiter herab“. Die Dichtung des Unsagbaren umkreist sodann Marion Poschmann, während sie so existenziell ernst wie humorvoll gebrochen über die Bedeutung des Gottesbartes im modernen Medium des Films nachdenkt. Der Dramaturg und Schriftsteller Hartmut Lange zeichnet das spannungsreiche Nebeneinander von poetischen und religiösen Praktiken nach, das sich für ihn vor allem im Moment der Kompensation treffen kann. Der Sammelband wird sodann von zwei literarischen Beiträgen beschlossen, die sich auf je ihre Weise mit dem religiösen Pluralismus befassen. Ilija Trojanow kritisiert in überzeugendem Modus Formen von dogmatischer Religiosität und Absolutheitsansprüchen und plädiert vielmehr für eine Vielfalt religiöser Wege, die Offenheit und Freiheit ermöglichen. Schließlich lotet Barbara Frischmuth sprachlich berührend und kenntnisreich die Nähe von religiöser und literarischer Transzendenz in unterschiedlichen Traditionslinien des Ostens wie Westens aus. Dabei wird einmal mehr die Dimension des Unverfügbaren und das poetische Wagnis, gegen das Unsagbare anzuschreiben, zur Faszination für Autorin und Leser.

Weil religiöse Erfahrungen, theologisches Denken ebenso wie Formen religiöser Lern- und Bildungsprozesse auf Phänomene und Reflexionen sinnlich-ästhetischer Wahrnehmungen zurückgebunden bleiben, ist der Sammelband für alle an dem unerschöpflich Dialog Interessierten und Beteiligten zwischen Kunst und Theologie lesenswert und den Horizont des Gewohnten zugleich erweiternd.

Für Friedrich Hegel wurde die Trias aus Philosophie, Ästhetik und Religion zu den Erkenntnissorten und Ausdrucksformen des Menschen schlechthin. In eben diesem Sinn wird der luzid angelegte und sorgsam gestaltete Band nicht nur zu einem intellektuellen und ästhetisch gewinnbringenden, sondern ebenso zu einem anthropologischen Ereignis und einer einnehmenden Einladung, der Welt- und Gottessehnsucht und ihren unverfügbaren Geheimnissen umspielend auf den Grund zu gehen.

Literarische Annäherungen
Poetikdozentur Literatur und Religion Bd. 4
Freiburg: Herder Verlag. 2019
142 Seiten
20,00 €
ISBN 978-3-451-38354-0

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