Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Joachim Kunstmann: Subjektorientierte Religionspädagogik

Im letzten Kapitel seines Plädoyers für eine zeitgemäße religiöse Bildung stellt Joachim Kunstmann, Professor für Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Weingarten, anhand eines Stundeneinstiegs exemplarisch dar, wie der subjektorientierte Religionsunterricht in der Praxis aussehen könnte. In den Wochen vor Weihnachten zündet der Lehrer zu Beginn die Kerze eines Adventskranzes an und setzt sich schweigend hinter das Pult. Nach einigen Minuten reagieren die Schüler auf diesen Impuls. Ein Mädchen sagt: „Die Kerze ist so schön“, einem ihrer Mitschüler erscheint das Licht warm und angenehm. Eine weitere Schülerin meint, dieses Licht könne sogar trösten. Andere Schüler haben ähnliche Erfahrungen gemacht.

Dieses Beispiel ist geeignet, um sowohl die Grundzüge als auch die Probleme der subjektorientierten Religionspädagogik herauszuarbeiten. Ihr Hauptmerkmal besteht darin, dass sie die Forderung nach einer Subjektorientierung des Religionsunterrichts ernster nimmt als bisherige Modelle (z.B. Symboldidaktik, Kirchenraumpädagogik, Performative Religionsdidaktik). Sie befreit den Religionsunterricht von den inhaltlichen Vorgaben der Tradition, ja von der Stofforientierung insgesamt. In Anknüpfung an Richard Kabisch und Dieter Stoodt macht sich Kunstmann dafür stark, dass die religiösen Gehalte zugunsten der Lernenden in den Hintergrund treten. Der „wichtigste Inhalt religiösen Lernens” seien die Schüler selbst: ihre Ängste, Nöte und Hoffnungen. In dem geschilderten Gespräch geht es daher nicht um den symbolischen Gehalt oder die Geschichte des Adventskranzes, sondern um Existentielles. Die Schüler kommen über ihre Erfahrungen ins Gespräch, während der Lehrer sich auf die Rolle eines Moderators beschränkt. Der Austausch verfolgt das Ziel, symbolische Selbst- und Lebensdeutung zu ermöglichen. Die Tradition als „Fundus deutender Ideen", repräsentiert durch den Adventskranz, ist Medium und Resonanzbereich der Selbstdeutung. Sie soll die Schüler zu Symbolisierungsprozessen anregen, nicht indes individuelle Symbolisierungen überflüssig machen. Auf diese Weise, so Kunstmann, lasse sich das Grundproblem der Religionspädagogik lösen: die Diastase von Subjekt und Tradition.

Die Kommunikation über Emotionen beim Anblick einer Flamme berührt die Schüler nach Kunstmann stärker als ein rationaler Diskurs. Auf diese Berührung kommt es ihm an. Denn für Kunstmann zeichnet sich das Subjekt dadurch aus, dass es berührt werden kann; dass es auf etwas Größeres bezogen ist. Er legt seinem Modell dementsprechend Paul Tillichs weite Religionsdefinition zugrunde. In der säkularen Welt werde die Bezogenheit des Menschen auf dieses Größere allerdings so sehr vernachlässigt, dass die Menschen mit ihren existentiellen Fragen allein blieben. Die Religionspädagogik müsse deshalb die Bezogenheit des Subjekts zur Welt insgesamt in den Blick nehmen. Sie dürfe sich keineswegs auf religiöse Gehalte beschränken und brauche nicht zwischen katholischen und evangelischen Positionen zu unterscheiden. Die Funktion des Advents kommt im geschilderten Unterrichtseinstieg darum nicht zur Sprache, der Kranz soll nur die Kommunikation anregen. Der anschließende Rekurs auf christliche Gehalte (biblische Texte, Lehren der Theologen, Manifestationen religiösen Lebens) könne im Einzelfall sogar unterbleiben.

Fraglich ist, ob die subjektorientierte Religionspädagogik geeignet ist, die verfassungsmäßige Absicherung des Religionsunterrichts von neuem plausibel zu machen. Sie wird in jedem Fall die Diskussion um die Einführung eines ökumenischen Religionsunterrichts befeuern. Doch mehr noch: Kunstmann hebt zwar hervor, dass die christliche Religion einen enormen Fundus von Bildern, Gleichnissen, Geschichten und Ritualen für Symbolisierungsprozesse zur Verfügung stelle. Aber er macht nicht deutlich genug, worin das Spezifische religiöser und speziell: christlicher Symbole besteht. Da die Schüler auch im Kunst-, Literatur-, und Philosophieunterricht mit symbolisch verdichteten Erfahrungen arbeiten, die sie unbedingt angehen, muss die subjektorientierte Religionspädagogik demonstrieren, worin der Mehrwert von (in engem Sinn) religiösen Symbolisierungen besteht, gerade wenn sie voraussetzt, dass säkular erscheinende Symbolisierungen sich als „echte und inspirierende Religion” erweisen könnten, und auf die Tradition daher punktuell verzichtet werden könne. Den öffentlichen Anfragen an die Zeitgemäßheit des (konfessionellen) Religionsunterrichts wird immerhin selten eine weite Religionsdefinition zugrunde gelegt.

Der gewichtigste Einwand gegen den vorgelegten Entwurf ist aber der weitgehend fehlende Praxisbezug. An mehreren Stellen kritisiert Kunstmann die theologische Ausrichtung des Unterrichts in der Sekundarstufe. Er versäumt jedoch zu zeigen, wie ein subjektorientierter Religionsunterricht in den Sekundarstufen funktionieren könnte. Die wenigen Praxisbeispiele, auch der geschilderte Einstieg, beziehen sich überwiegend auf die Primarstufe. Meistens sind sie sogar problematisch. Gemäß seiner Theorie schlägt Kunstmann z.B. vor, die Paradieserzählung nicht unvermittelt einzuführen, sondern die Schüler erst zu fragen, ob sie ihr Leben als Gang durch einen wunderbaren Garten empfinden oder als mühevolles Abrackern auf felsigem Grund. Kunstmann nutzt den biblischen Text hier als gesprächsanregenden Bildspender. Wo aber endet die Vorstrukturierung von Erfahrungen im Sinne einer Deutungsidee? Und wo beginnt die Vorgabe? Auf dem Weg zu einem Paradigmenwechsel bleibt das Modell der subjektorientierten Religionspädagogik von der Theorie zur Praxis auf halbem Weg stecken.

Plädoyer für eine zeitgemäße religiöse Bildung
Mit einem Vorwort von Wilhelm Gräb
Stuttgart: Calwer Verlag. 2018
152 Seiten
19,95 €
ISBN 978-3-7668-4464-4

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