Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Joachim Negel: Das Virus und der liebe Gott

 

Die Sprachlosigkeit angesichts der Corona-Pandemiekrise mit der auf die Spitze getriebenen Gottesfrage will der Autor ein wenig unterlaufen. In der Anamnese (I.) schließt sich der kurzen Situationsbeschreibung das als Überleitung fungierende erste Intermezzo an. Sechs spannende literarische Beispiele zeigen, wie Menschen in verschiedenen historischen und sozialen Situationen existentiell mit einer Seuche umgehen. Die Diagnose (II.) der heutigen Situation geschieht mittels zwölf biblischer Urgedanken. Exemplarisch seien im Folgenden einige wichtige Aspekte aus den sinnvoll miteinander verknüpften, komplexen, spannenden Abschnitten genannt.

Angesichts der Endlichkeit des Lebens wäre eine an Jesus orientierte Selbstrelativierung im Vertrauen zu Gott entlastend. Gott setzt sich als der unnennbare Urgrund, als der Andere, dessen Verheißungen noch ausstehen, einer sedativen Verzweckung zur Wehr. Der Glaube an Gott hält die Forderung der Gerechtigkeit für die Toten aufrecht, ein zentrales Erbe des jüdisch-christlichen Gottesdenkens. Diese biblisch fundierte Überzeugung steht gegen einen sich selbst verabsolutierenden Positivismus. (Natur-)Wissenschaftlich plausibel und legitim wird er zur Ideologie, wenn sich der Positivismus zur Metaphysik aufspreizt, der die Frage nach Gott für überholt hält. Demgegenüber stellt sich die Frage, worin die Korrespondenz zwischen dem erkennenden Menschen und der sich ihm zu erkennen gebenden Welt gründet. Hier zeigt sich die Verwurzelung des Menschen in einer Wirklichkeit, die seinem Erkennen vorausläuft. Diese als Gott zu bezeichnen, bedeutet keinen Gottesbeweis. Im Erkenntnisakt noch so simpler alltäglicher Zusammenhänge ist jedoch ein Hauch des Gottesgeistes am Werk. Denn das Universum kann kein nur materieller Zusammenhang sein. Vielmehr gibt es sich dem Menschen zu erkennen, korrespondiert dem menschlichen Geist und hat eine mit ihm verbundene Struktur. In der Auseinandersetzung mit dem verbreiteten Szientismus stellt sich daher die Frage nach dem Woher und Warum des menschlichen Geistes immer neu. Sie bleibt empirisch unbeantwortbar. In diesem Zusammenhang kann deutlich werden: Gott ist die meinem Erkennen transzendental vorauslaufende und es gründende Wirklichkeit.

Aus der skizzierten subjektivitäts- und erkenntnistheoretischen Einsicht ergibt sich die existentielle Frage: Erlischt im Sterben mit unserer körperbasierten geistigen Selbstrepräsentanz die Erkennbarkeit Gottes? Oder fallen wir aus Gott selbst dann nicht heraus, wenn wir sterben? Wir wissen es nicht. Der Gotteszweifel bleibt und wir können uns ihm ergeben. Aber auch die intellektuell plausible gegenteilige Option ist möglich: Ich setze auf das liebende Gedächtnis Gottes, das die Verstorbenen über den Tod hinaus rettet. Das zweite Intermezzo steht am Ende des Diagnoseteils. Es beinhaltet undogmatische Überlegungen zur christlichen Hoffnung. Die biblische Verheißung: Kommen wird der, der war, richtet sich auf den auferweckten Gekreuzigten. Die Hörer und Leser der biblischen Texte können ihre dem Tod verfallene Lebenswirklichkeit dadurch von der österlichen Verheißung her wahrnehmen. Das Leben aus der Hoffnung zieht zwei wichtige praktische Fragen nach sich: Was zählt für mich wirklich? Und: Wie gehe ich mit dem anderen hilfreich um?

Damit ist der therapeutische Aspekt (III.) angesprochen. Die heilenden Ratschläge stehen unter der sehr einprägsamen, berührenden Überschrift „Die kleinen Sakramente des Alltags, einzunehmen am Abend und am Morgen.“ Überzeugend ist jeweils der Bezug auf die mit der Pandemie verbundenen Gegebenheiten. Gegenüber dem Social Distancing kommt angesichts von Jesu Freiheit im Umgang mit den anderen das Zueinander von Nähe und Distanz als Offenbarung der Vaterbeziehung Gottes zu den Menschen in den Blick. Im Sterben ist ein letztes Lassen notwendig. Aber darf man Sterbende tagelang allein sterben lassen, alten Menschen den Kontakt zu ihren Lieben monatelang verbieten? Die drohende Ansteckung lässt die Frage aufkommen: Wovon lassen wir uns affizieren? Die Maskenpflicht könnte Möglichkeiten bieten, innere Masken abzulegen, uns nicht mehr in uns selbst zu verbeißen und den anderen zu ertragen in wohlwollendem Vertrauensvorschuss und in der Bereitschaft zu vergeben. Das seltsame Wort „Lockdown“ bedeutet „Stillstand“ und zieht den Blick nach innen: Was ist in mir mit mir los – und vielleicht die Frage nach der Gegenwart Gottes in meinem Leben. Impfen, Hoffnung auf Immunität, kann diese Situation neu zum Sprechen bringen. „Im-munis“, frei von anderen zu erbringenden Diensten, kann im Sinne des Paulus frei für Christus machen und frei von der Macht des Todes. Aus dieser Freiheit kann ich außerdem bedrängende Alltagssituationen humorvoll relativieren. Das Osterlachen ist ein Verweis auf das Lachen der Kinder Gottes.

Die Bezeichnung „Corona“, zugleich der Name der Schutzpatronin gegen Seuchen, lenkt den Blick auf die Gesundheit. Der realistische Blick auf die eigene Endlichkeit kann den Fitnesskult relativieren. Die eigene Krankheit wird zum Lernort, an dem man zu Jesus, dem göttlichen Arzt und Heiland, Kontakt bekommen kann. Ein- und auszuatmen macht die Beziehung zwischen meinem Inneren und der Welt spürbar. Analog dem Atmen zielt das Beten auf eine Tiefenresonanz zwischen meiner Seele und dem Weltgrund. Im Beten steht Gott mir gegenüber und umfängt mich zugleich. Gegen eine schmallippige Theologie, die im Jammer der Theodizeefrage den Atem abschneidet, setzt der Verfasser als letztes Wort auf den Beipackzettel: „Resignation“ – verstanden als Ergebung, Gelassenheit.

Joachim Negels spannende und unzeitgemäße Betrachtungen zur Corona-Pandemie bringen erkenntnistheoretische, theologische, anthropologische, existentielle und seelsorgliche Gesichtspunkte kenntnisreich und anschaulich zur Sprache. Es lohnt sich, seine theologische Hausapotheke zu besuchen.

Unzeitgemäße Betrachtungen
Freiburg: Herder Verlag. 2022
278 Seiten
28,00 €
ISBN 978-3-451-39476-9

Zurück