Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Joel F. Harrington: Meister Eckhart

 

Anzuzeigen ist eine neuere Biographie über Meister Eckhart, geschrieben von einem amerikanischen Historiker für europäische Geschichte speziell des 16. Jahrhunderts, gut beworben und mit großen Absichten; dargestellt werden soll „Der Mönch, der die Kirche herausforderte und seinen eigenen Weg zu Gott fand“.

Fragen wir zunächst, was wir vom Meister Eckhart kennen. Texte, mehr nicht, nicht einmal eine ungebrochene Tradition seiner Werke. Texte können etwas bedeuten. Was können wir über einen solchen Text sagen? Etwa wie er entstanden ist: Ein Spitzentheologe und Verwaltungsspezialist hält um 1300 eine Predigt im Deutsch seiner Zeit. Eine Zuhörerin schreibt mit, so genau, dass selbst sprachliche Feinheiten wie Dialoge, völlige Neuschöpfungen, philosophische Spitzensätze, selbst „Wendungen gegen den Strich“ festgehalten werden. Ein Beispiel: „War umbe lebest dû? – truiwen, ich enweiz! ich lebe gerne.“ (P 26, mulier, venit hora: „Warum lebst Du? Ehrlich, weiß ich nicht! Ich lebe gern.“) Das scheint auf dem ersten Blick ziemlich banal. Zumindest wenn man den Satz modern verstehen will, etwa so: „Jemand will seinen Spaß, wandering joy, haben; der Rest ist ihm gleichgültig“. Abgesehen davon, dass so etwas in jener Zeit nicht wirklich vorkam (selbst einem Vaganten wie Villon grauste davor) und dass dafür im Kontext nichts spräche: Der Satz selbst besagt etwas anderes, zu sehen am Detail: „Gerne leben“ bedeutet zu leben auf eine Weise, die sich jeder Verzweckung entzieht, weil sie wie das Atmen einfach geschieht, ohne dass es sich begründen muss. Selbst das ist noch zu einfach gesprochen; denn der Satz ist hochgradig durchkonzipiert und voller Überraschungen. Wir werden sehen.

Harringtons Buch macht viel richtig: Der Autor schreibt einen gut verständlichen Stil, das Lesen bleibt eingängig, alles wird in verdaulichen Happen serviert. Harrington kennt die einschlägige Literatur und setzt sie da sinnvoll ein, wo sie seinem Plan als Historiker dient. Auch uns bedient er reichlich mit zutreffenden und oft hilfreichen Wissensdetails aus den unterschiedlichen Bereichen seines Themas. (Es fehlen ein präziser, die Fülle unterschiedlicher Details aufschließender Apparat und eine Zeittafel. Dass gerade Kurt Flaschs Zusammenfassung, Eckhart sei „Philosoph des Christentums,“ kritisch gesehen wird, fällt rasch auf.)

Das strukturierende Narrativ ist eingängig: a) von Ritterphantasien der Kindheit, b) zu erfolgreichen Studien und Karriere im Orden, c) zu Bevorzugung „intuitiver“ Erhebung und zur „spirituellen Ikone“ und schließlich d) zum Prozess in Avignon. Dabei macht besonders eine seltsame Hilfskonstruktion nachdenklich: Der eigenartige Magister verlöre irgendwann den Spaß am Magistern, neigte sich (warum eigentlich?) der Intuition zu, und würde – ja was? – lammfromm wohl nicht, also was? Welch seltsamer „intuitiver“ Erkenntnisweg wird hier aufgerufen, sollen das etwa Eckharts „Bekenntnisse“ sein? Was doch eher bedeutet: Erkenntnisse sind schon längst bekannt, wenn auch eben verschüttet und nur über Lösen von Blockaden (wieder) zu bekommen – also geradezu anti-intuitiv – Harrington ordnet diesen Weg der Arbeitsform der Predigten zu. Auch das überrascht, denn das Thema des richtigen Lebens war schon in den „Reden der Unterweisung“ der Erfurter Zeit bekannt. Das weist auf ein grundsätzlicheres Problem hin: Harringtons Verknüpfung eines thematischen und eines chronologisch-biographischen Ansatzes (mit vielen allgemein-historischen und manchen modischen Einsprengseln) ist zwar eingängig, aber wenig eindeutig, denn der biographische Erfindergeist des Historikers (mit vielen „etwa“ und „dürfte wohl“) verwirrt den Durchblick eher, als er die „Themen“ einordnet oder verdeutlicht. Das führt im schlimmsten Ergebnis zu dem reißerischen, fatal schiefen Untertitel.

Eckhart befindet sich in einem Zeitalter der Verfügbarkeit und Kombinierbarkeit philosophischer und theologischer Texte. Vorstellungen, Traditionen, Räume und Zeitalter werden verwirrt und wieder entwirrt. Es ist eine Zeit von explodierender Weltkenntnis und von Spracherfindung (Lullus, Dante), schließlich der wachsenden Kenntnis alter oder ferner Denkformen, der jüdischen oder der islamischen und der durch sie überlieferten griechischen Philosophie und Mathematik.

Ausgangspunkt praktisch aller Texte ist eine Bibelstelle. Die wird nicht historisiert oder entmythologisiert, sondern zum Verstehen aufgebrochen und bearbeitet mithilfe einer Theorie der Sprache, die bestimmten Stellen (Ausdrücken, Sätzen) und deren eigenen Kontexten einen Sinn abringt, indem solche neuen Kontexte eingespeist werden, die sich (blitzartig) als Antworten entpuppen. Verstehen wird ermöglicht durch die Schriftsinn-Theorie: Jede Bibelstelle wird als mögliche Antwort auf existierende Suchanfragen (praktischer, existentieller, frommer Art) verstanden.

Verwendet wird ein Baukasten der Philosophie. Eckharts Anliegen, den Glauben durch Vernunft aufzuzeigen, war verbreitet, führte aber zu recht unterschiedlichen Ausprägungen. Die Aufnahme verschiedener Traditionen (wie Neuplatonismus und Aristotelismus, negativer Theologie und islamischer Autoren) war sicher eine Besonderheit, wie auch die Benutzung der deutschen Sprache in den Predigten. Welche Begründungen liegen dafür vor, dass Eckharts Argumente nicht nur nett kombiniert sind, sondern zutreffen? Da wird es schwierig, denn die Begriffe entgleiten leicht. Ein Beispiel: Der zentrale Satz, Gott sei Sein (1), wird zu: Gott sei Negation alles Begrifflichen (2), also das Niht, genauer: Nihtes niht (3) und schließlich: darüber hinaus sei jenseits aller Begriffe „Gottheit“ zu denken (4), aber nicht unbewegt, sondern ein Brausen in sich – reale, bewegte fruitio. Ufff, sagt sich der Leser und geht den Gedanken zurück und staunt: Ja, das hält. Die Begriffe haben ihre herkömmliche Eingängigkeit verloren, aber der angezielte Satz ist konsistent, ja aufregend. Wenn überhaupt etwas, dann bringt solche Hochleistungslogik Eckhart zum iubilus, zur philosophischen Ekstase.

Was ist hier geschehen? Der Forscher wird unzufrieden mit herkömmlichen Antworten und rettet sein eigenes Denken versuchsweise durch Neuanordnung der Denkschritte und durch die Anwendung von (ebenfalls traditioneller) scharfer Logik. Das fasziniert bis heute Forscher wie Erich Fromm oder Dietmar Mieth, und es schafft Raum für neue Einsichten. An die Stelle des Ideals der Gefügigkeit, also Traditionen in ein System glatt einzupassen, tritt das der Gelassenheit: realistisch Widersprüche stehen zu lassen und am Ende spekulativ (nach oben, kategorial) zu verstehen. Dabei leidet die Tradition wenig, weil das Widerspenstige inklusiv mitgedacht und steile Passagen enkaptisch wieder eingebunden werden. Das macht die Lektüre spanend. Dem Lesenden entsteht ein eigenartiger Thrill: Passt es? Und oft genug passt es.

Die Predigt auf Deutsch bietet nicht nur den Vorzug, Begriffsfallen zu umgehen, sondern zwingt auch zu Verständlichkeit. Praktisch-ethische Urteile stehen neben „logisch“ richtigen. Eine menschliche Stimme spricht unter Menschen, idealerweise im Dialog, sagt „Ich“ und „Du“. Im Unterschied zu anderen Autoren und späteren Epochen gelten als Argument freilich nicht das quantitative Auszählen und die Dimension des Historischen, gar Journalistischen oder Biographischen.

Freilich bleibt es dabei, dass hier Widerspruch ausgelöst wird: Es geht beim Meister tatsächlich manchmal wild zu. Der Kollege und Kritiker Wilhelm von Ockham konnte gar nicht anders, als Eckhart für einen Wirrkopf zu halten. Der Dominikaner-Meister ist eben kein Fall für extreme Konzentration auf knappe Voraussetzungslosigkeit, dennoch blieb seine Argumentation verständlich und durchdacht, anerkannt auf der Spitze der Reflexion seiner Zeit. Eckhart verlangt fast nichts vom Fachphilosophen, außer eben: mitzudenken.

Der Dominikaner war streitbar, er kannte die Schwierigkeiten seines Vorgehens und bestritt in bester akademischer Tradition Streitgespräche. Sein Lebensende war überschattet von einem Streit ganz anderer Art, einem Prozess vor dem Papst in Avignon; den hatte er selbst wegen lokaler Unstimmigkeiten beantragt. Das Verfahren endet (wahrscheinlich nach seinem Tod) mit der Verurteilung einzelner Sätze, begründet mit der Sorge um die Verunsicherung einfacher Gläubiger „in agro Domini“. Der Vorgang war so selten nicht, auch Thomas wurde verurteilt, der setzte sich aber danach durch, was dem „armen“ Meister aus naheliegenden Gründen verwehrt blieb.

Was „begehrt“ Eckharts Modellmensch, das fröhlich lebendige Ich? Die Frage wird für Sie, den Leser, wichtig sein. „Ich“ lässt zu, dass fluide wächst, was ich tatsächlich will. Ich helfe mir durch die gesuchte Verschlankung und gewollte Lösung von allem Überflüssigen, also Armut. Der so aktivierte Prozess von Abgeschiedenheit treibt mich aufwärts, weg von vordergründig wünschenswerten, aber hinderlichen Illusionen von Selbstwerdung. So erst kann ich zulassen, dass wächst, was ich wirklich will. Über die Stufen der Verschlankung und gelingender Anstrengung lerne ich, besser und engagierter zu werden. Es entsteht ein Aufstieg durch Entleerung, durch den wachsenden Verzicht auf „dies und das“. Neugier und Vernunft entwickeln sich zu einer Mentalität des Durchbrechens. Es treibt mich, nicht stehen zu bleiben, sondern weiterzugehen. Am Ende zeigt sich das Maximum, das Sein ohne Eigenheit – einfach da zu sein. Aus zugelassenem Geschehen und vernünftiger Suche bricht etwas durch, es stürzen die letzten Verbohrtheiten: die Gottesgeburt in der Seele.

Was „begehrt“ Eckharts Text von uns? Mit Bernhard Welte gesagt: dass wir uns „Gedanken zu seinen Gedanken“ machen. Den Rest können wir gelassen erwarten.

Der Mönch, der die Kirche herausforderte und seinen eigenen Weg zu Gott fand
Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz und Andreas Thomsen
München: Siedler Verlag. 2021
540 Seiten m. s-w Abb.
28,00 €
ISBN 978-3-8275-0095-3

Zurück