Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Jörg Lauster: Der Heilige Geist

Dass die Entwicklung des christlich-theologischen Denkens nicht geradlinig verläuft, sondern immer wieder von Rückschritten geprägt ist, die mitunter die Größe und Weite früheren Denkens weit hinter sich zurücklassen, zeigt beispielhaft die Entwicklung des Konzepts der Schriftinspiration. Den Begriff der göttlichen Inspiration setzte der griechische Kirchenvater Origenes im dritten Jahrhundert n. Chr. ein, um einen weiten Verständnishorizont der biblischen Texte zu ermöglichen. Origenes sah deutlich, dass ein wörtliches Verständnis der Bibel zu vielen Widersprüchen führt. Wenig überraschend für ihn, versucht doch immer ein endlicher Mensch mit endlichen Worten die unendliche Weisheit Gottes auszudrücken. Deshalb gilt es, die Texte weit ab vom wörtlichen Verständnis zu begreifen – die Geburt des sogenannten „vierfachen Schriftsinns“, der lange das Bibelverständnis prägte.

Erst die konfessionellen Auseinandersetzungen führten zu einer fatalen Vereinseitigung. Mit dem Schlagwort der Verbalinspiration versuchte man dem lutherischen Prinzip „sola scriptura“ eine Art wissenschaftlichen Anstrich zu geben, indem man in der extremen Variante von einer „suggestio verborum“ ausging, also einer wortwörtlichen Schriftinspiration durch den Heiligen Geist. Bereits hier wird der Grundstein für den Bibelfundamentalismus gelegt, der besonders in den USA weitverbreitet ist. Dabei geht es, folgt man Jörg Lausters Konzept einer „pneumatologischen Stoffwechseltheorie“, darum zu zeigen, wie der unfassbare, überall und nirgendwo anwesende Heilige Geist sich durch die Geschichte und die darin wirkenden Menschen zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten materialisiert bzw. formalisiert. In Bezug auf die Entstehung der biblischen Texte eben gerade nicht durch eine pseudowissenschaftliche Engführung im Sinne einer Verbalinspiration, sondern durch die Dynamik, die das Offenbarungsgeschehen Gottes und insbesondere das Christusereignis in den Anhängern hervorgerufen hat. Die so verstandene Wirkung des Geistes motiviert dazu, Glaube, Hoffnung und Liebe lebendig werden zu lassen und schriftlich narrativ zu artikulieren, indem biblische Traditionen aufgegriffen und in eine neue Form gegossen werden.

Lausters Konzept einer „historischen Kulturpneumatologie“ findet viele solcher Formen materialisierter Geistwirkungen im Verlauf der Geschichte des christlichen Lebens. Anhand solcher kulturgeschichtlich greifbarer Stationen entwirft er eine Art Biographie des Heiligen Geistes. Ob nun im Zusammenhang trinitätstheologischer Auseinandersetzungen in der Antike oder in Form einer Gleichsetzung menschlicher Intellektualität mit Wirkungen des göttlichen Geistes in der Renaissance, überall sieht Lauster Spuren eines Überschusses, der eine Motivation im Denken und Handeln anzeigt, die weit über die Möglichkeiten der Welt hinausweist. Es ist das unbegreifliche Rauschen des Geistes, das den Menschen aus den „Verstrickungen seiner natürlichen Daseinsweise“ zur Selbsttranszendenz befähigt.

Wer bisher noch nichts über den wirkmächtigen Renaissancehumanisten Marsilio Ficino wusste, der die Geistbegabung des Menschen in die Nähe des göttlichen Geistes brachte und damit zwar einer Intellektualisierung der Wirkung des göttlichen Geistes im Menschen Vorschub leistete, gleichzeitig die heute oftmals nicht mehr so recht artikulierbare Größe und Würde des Menschen herausstrich, wird bei Lauster fündig werden. Die emanzipatorische Leistung, die die Erfahrung der Geistesgegenwart bei manch hochbegabten Beginen wie Mechtild von Magdeburg bewirkte, die sich dadurch eine ganz eigene Autorität gegenüber der kirchlichen Autorität begründen konnten – auch das wichtige Stationen von Lausters Biographie des Heiligen Geistes. So könnte man noch viele Beispiele nennen, die die „historische Pneumatologie“ zu einer kulturgeschichtlichen und theologischen Fundgrube werden lassen.

Sicherlich lässt sich kritisch zurückfragen, ob Lausters materialisierte Formen des Geistes nicht auch von ganz anders her hinreichend erklärbar sein könnten. Wie ist das Verhältnis von Politik, Wirtschaft, Sprache, Kultur etc. zur Wirkung des sog. Geistes genau zu verstehen? Das würde natürlich voraussetzen, dass man eine Theorie des Geistes entwirft, was die Schwierigkeit einer systematischen Festlegung mit sich brächte, das Lauster vermeiden möchte. Diese Uneindeutigkeit macht sein Rahmenprogramm einer Biografie schillernd. Nichtsdestotrotz ist Lausters Buch absolut lesenswert, einfach deshalb, weil man so viel Neues dabei lernt.

Eine Biographie
München: C.H. Beck Verlag. 2021
431 Seiten m. farb. Abb.
29,95 €
ISBN 978-3-406-76627-5

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