Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Jorge Mario Bergoglio SJ / Papst Franziskus: Erziehen mit Anspruch und Leidenschaft

Die Herausforderung christlicher Pädagogik
Aus dem Spanischen von Gabriele Stein
Mit einer Einführung von Michael Sievernich SJ


Ein Bischof aus den Tiefen Südamerikas predigt seinen Religionslehrern. Er äußert bedenkenswerte Dinge. Doch selbst das wäre noch kein Grund, die Predigten in Europa zu drucken. Dann wird dieser Bischof Papst. Und Leser fragen sich: Hat Franziskus sich beim Predigen vielleicht in die Karten schauen lassen und den Keim eines Programms ausgeplaudert?

Ab da wird die Lektüre anstrengend; denn mehrere Schichten Staub müssen vom Text entfernt werden: die besondere Situation von Schulen in Lateinamerika, speziell Argentinien; der besondere Ton südlicher Frömmigkeit; Verlagsinteressen; die Grenzen der Übersetzer und Kommentatoren. Was sich dann zeigt, ist allerdings überraschend, fast schockierend.

Wen hat man in der Lehrerbelehrer-Rolle nicht schon gesehen? Und jetzt tritt auf: ein Ersthelfer, wahlweise ein Knotenlöserlehrling. Denn so versteht der Bischof von Buenos Aires seine Welt: als Knotenberg, Asche, Waisenhaus, Wüste, Fremde. Apokalyptik mag gerade nicht modisch sein. Wie Bergoglio sie erzählt, ist sie Sicht auf Fakten. So sagt er: Das Mittelmeer darf kein Friedhof sein. Das ist Apokalypse now. Das musste nur einer immer wieder zu sagen wagen. Seltsamerweise werden Informationen dadurch erst Fakten, dass an ihre massive Gegenwart immer wieder erinnert wird: Dauerstress für Propheten. Begleitet wird die Arbeit an den Fakten durch ein strikt sachliches, antitotalitäres Welt-, Selbst- und Kirchenverständnis. Die Entgegensetzung von einer Pädagogik des Wettbewerbs und einer Pädagogik der Solidarität fügt den scharfen Ton der Kritik hinzu.

Papst Franziskus kennt und verwertet pädagogische und soziologische Gegenwartsliteratur. Sein Argumentationsstil bleibt trotzdem bieder, fast bäuerlich. Wir lesen einen Bauern aus der Megacity, ohne Hoffnung auf Rezepte und Glamour, aber schmerzlich angerührt von der kalten Indifferenz der Moderne („Routine und Teilnahmslosigkeit“ – das glatte Gegenteil der leidenschaftlichen indiferencia des Meisters Ignatius). Er glaubt letztlich keiner der gängigen Denkschulen, denkt nicht progressiv, nicht elitär, nicht konservativ. Wichtig bleiben ihm: sichere Beziehungen, Solidarität, Sehnsucht und die hartnäckige Beachtung der Fakten. 

Selbstbewusst sachlich, ja desillusioniert wird ein Weg durch die Unklarheiten erzieherischen Handelns gesucht. Die Identität jedes Kindes selbst, nicht Aufzucht zu hohen Zielen, wird beabsichtigt. Ungewöhnliche, oft paradoxe Begriffspaare erläutern die Absichten: Exzellenz der Solidarität, unentgeltlich mit Effektivität, höchste Wahrheit gegen Fundamentalismus. An diesen Definitionen bleibt manches vage, da ist noch Weg zurückzulegen.

Religionslehrerinnen und Religionslehrer wissen, in solchen Überzeugungen steckt Theologie. Die Einsicht in die Untauglichkeit der vorhandenen Lösungen (etwa: spiritueller Überflug, politische Weltverbesserung) führt durch Niedergeschlagenheit oder Wahn zum Stillstand – und damit wider Willen zur Bestätigung der mangelhaften Lösungswege. Unser Autor kennt das Problem. Er löst es aber anders und darin neu. Er verharrt nicht bei der Kritik der Irrwege, sondern fragt: Wer leidet an der Irre? Und weiter: Wie können wir helfen? Die neue Frage beendet Illusionen und sucht Auskünfte im Gespräch. Sie bringt Theologie hervor, die sich am Ende als die bessere Anthropologie herausstellen könnte – jetzt gerade aber mit vergänglichen Zeichen und ohne Summenbildung auskommen will. 2014 erkennt man hier den späteren Papst wieder und beginnt zu verstehen.

Und wie steht es um ein künftiges Schulprogramm? Tatsächlich wird ein alter Erziehungsmulti neu auf Touren gebracht. Das geschieht ohne Kulturkampf, umso deutlicher tritt hingegen die Festschreibung eines armutszentrierten Konzeptes hervor. Der Kardinal akzeptiert, was lange als inakzeptabel galt: die Kapitalismuskritik der Befreiungstheologie (obwohl die mit dem Privatschulmilieu wenig am Hut hat) ebenso wie die reformpädagogische Idee kleiner Gemeinschaften. Es geht um eine „Erziehungsgemeinschaft als Kirche im Kleinen“ und ein neues Post-Pisa-Bildungskonzept: „Schule der Weisheit“. Das alles spielt sich zwischen Frankfurt und Buenos Aires in zwei Sprachwelten ab, die seltsam unverbunden klingen. Ich vermute: Die Dissonanzen verdecken vor allem Gemeinsamkeit.

Für eine Bettlektüre ist das Buch zu anstrengend und aufregend. Hilfreich ist es für neugierige fromme Lehrerinnen und Lehrer oder für unterrichtende Zeitgenossen, die nach guten Gründen suchen, um weiterhin mitzumachen.

Freiburg: Herder Verlag. 2014
188 Seiten
18,99 €
ISBN 978-3-451-33539-6

 

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