Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Joris-Karl Huysmans: Lourdes

Nicht Lourdes ist die geistliche Heimat von Joris-Karl Huysmans geworden, sondern die gotische Kathedrale, die den Beter birgt zum Innehalten und Innewerden von Gottes Gegenwart in seiner Seele, mit der in ihr gefeierten Hochliturgie über das Kirchenjahr hinweg, durchflutet von den in der Benediktinerabtei Solesmes erneuerten Melodien des gregorianischen Chorals. Huysmans beschreibt in seinen Romanen auch seinen eigenen Werdegang, vom Versuch der Selbsterlösung durch Ästhetizismus, Okkultismus und Rausch zum Erlöstwerden durch den dreifaltigen Gott. Von zwei Aufenthalten in Lourdes in den Jahren 1903 und 1904 wurden 1906 vierzehn Impressionen des Schriftstellers veröffentlicht, die in diesem Jahr auf Deutsch in einer ästhetisch ansprechenden Form neu von Hartmut Sommer herausgegeben worden sind.

Als betender Flaneur durchstreift Huysmans die Stadt, ihre Umgebung und den Gnadenort. Dem an weite Ebenen gewohnten Literaten ist das in Berge eingezwängte Lourdes Quelle des Unbehagens; die Ars celebrandi ist nur wenigen Priestern gegeben; gefälliger Volksgesang hat den ausdrucksstarken Choral ersetzt; einsame Klosterkirchen schenken ihm mehr innere Einkehr als die großen Aufläufe rund um die Innenstadtkirchen; er verdammt die stillosen Bausünden eines grobschlächtigen Historismus. Peinlich berührt von ungeistlichen Wallfahrtstouristen und geschäftstüchtigen Einheimischen – Pralinen aus Lourdeswasser. Angewidert von Frömmlerinnen und lebensfremden Klerikern gewinnt er, obwohl zu dieser Zeit selbst auf den Tod an Krebs erkrankt, jene ästhetische und religiöse Distanz, um zutiefst innerlich bewegt zu sein im Anblick selbstloser Nächstenliebe, monströser Krankheitsbilder und Heilungen unterschiedlichster Art, deren Für und Wider er bedächtig und vorsichtig abwägt. Lourdes mit seiner überfremdenden Wallfahrtsmaschinerie zur religiösen Massenabfertigung zeigt sich ihm immer noch als Gnadenort, wo Menschen Wunder erfahren, sei es durch Heilung, sei es durch Tröstung. Nicht frei von Vorurteilen und rigorosem Urteil bewahrt Huysmans als Katholik sich den Blick für einzelne Schicksale Kranker, die er in kurzen Beschreibungen dem Leser pointiert nahebringt. Sie stehen exemplarisch für alle Leidenden, die in Lourdes auf Heilung hoffen. Ihr Glaube stärkt den Glauben des Schriftstellers, ihre enttäuschten Hoffnungen geben ihm zu denken. Huysmans‘ Credo und seine Ästhetik knüpfen an am Einfachen, Unverfälschten, Echten, sowohl was den Charakter der Menschen als auch ihre Frömmigkeit angeht, bis hin zur Architektur, die ihrem Glauben einen Ort zu geben versucht. Alles Überschwängliche, Übertriebene, Gekünstelte weckt seinen Widerwillen. Eine Brücke zwischen Lourdes und seiner eigenen religiösen Welt baut sich Huysmans durch die Erkenntnis, dass die Botschaften der Unbefleckten Empfängnis an Bernadette Soubirous sich in den Festtagsgeheimnissen der Liturgie des jeweiligen Tages, an denen sie sich ereignet hatten, in ihren Gebets- und biblischen Texten widerspiegeln. Lourdes ist eine Aktualisierung der biblischen Offenbarung, keine Ergänzung über sie hinaus. Kranke pilgern nach Lourdes, der kranke Schriftsteller findet sein Heil eher in der Liturgie der Pariser Kirchen und in Andachtsbildern des Mittelalters.

Mag dem heutigen Leser Frömmigkeit und Theologie fremd bleiben, aus denen Huysmans lebt oder die er beobachtet – etwa dass das Blutopfer der Unschuldigen Kinder Jesus freigekauft habe, bevor dieser mit seinem Blut alle freikaufte –, so bleibt doch das zeitlose Berührtsein vom Schicksal leidender Menschen, sich verdichtend in einem Aufschrei nach Heilung zu Gott hin. Welche Antworten der Mensch für sich findet angesichts des Übermaßes an Leid; zu welcher Haltung der Christ kommen wird seinem Gott und seinem Mitmenschen gegenüber im Selbst-Leiden oder Mitleid – hier entscheidet sich Glauben-Wollen oder Nicht-mehr-glauben-Können. Die literarische Meisterschaft Huysmans‘ bringt dem heutigen Leser leidende Menschen aus der Vergangenheit nahe und ihre mitleidende oder in sich selbst befangene Umwelt und stellt den Christen vor die Frage, woraus er selbst lebt, wenn er mit wachen Sinnen des Leids in den Leidenden gewahr wird. Auch wie desillusionierende Kirchen- und Zeitkritik durch einen Blick hinter die Kulissen gepaart bleibt mit eigener tiefer Frömmigkeit, mag beispielgebend sein für gegenwärtige Kirchenreformer. Hartmut Sommer, der Übersetzer, hat die vorliegende Ausgabe mit einem zum Verständnis hilfreichen Anmerkungsapparat versehen.

Mystik und Massen
Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Hartmut Sommer
Düsseldorf: Lilienfeld Verlag. 2020
317 Seiten m. s-w Abb.
22,00 €
ISBN 978-3-940357-65-6

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