Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Jürgen Manemann: Revolutionäres Christentum

Äußerlich ein schmales Bändchen nur, aber mit jener gewaltigen Portion Dynamit, die dem Evangelium entspricht, geht es doch in der ganzen Bibel um Befreiung aus falschen Verhältnissen – sei es aus „Ägypten“, sei es aus der Babylonischen Gefangenschaft, sei es aus dem Land „in Finsternis und Todesschatten“ wo immer. Kurzum und vorweg: Das konzentrierte Buch ist ein Muss für alle, denen an gerechte(re)n Verhältnissen liegt, zumal wenn sie christlich orientiert und zudem kirchlich beauftragt sind. Der Untertitel markiert genau den optionalen und programmatischen Charakter der Ausführungen: Wo stehen Christen und Kirche(n) in der Corona-, in der Klima-, in der Demokratiekrise – in jener förmlich selbstmörderischen Gesamtkrise menschheitlichen Ausmaßes? Was haben sie (womöglich) noch und wieder beizutragen an diagnostischer und befreiender Kraft? Jedenfalls braucht es gegen den drohenden Ökozid eine „Revolution für das Leben“, wie Manemann mit Bezug auf den Bestseller der Philosophin Eva von Redecker betont und theologisch entfaltet.

Der Direktor des Forschungsinstituts für Philosophie in Hannover beginnt – ganz auf der Spur seiner Lehrer Johann Baptist Metz und Tiemo Rainer Peters, also der damals „Neuen Politischen Theologie“ – mit der gefährlichen Erinnerung biblischer Perspektiven. Schon die erste Seite der Bibel, die von der sehr guten und schönen Schöpfung spricht, besingt ja nicht die bestehenden Natur- und Geschichtsverhältnisse, wie sie faktisch sind, sondern wie sie sein sollen und worauf hin sie entworfen sind. De facto aber leben wir alles in allem noch „jenseits von Eden“ – und aus dieser „Mordgeschichte“ seit Kain und Abel gilt es unbedingt herauszukommen. Exodus und Reich Gottes lauten bekanntlich die zentralen Glaubensbilder dieser Befreiungs- und Erlösungsdynamik. Und die Botschaft von der Auferstehung steht ursprünglich in engstem Zusammenhang mit der vom Gericht: Nicht die „Lösung“ des natürlichen Todesproblems stünde demnach im Mittelpunkt der Osterbotschaft, sondern die Überwindung des faktische Unrechts in Gestalt struktureller und persönlicher Sünde – jener Tod also, den wir durch Egoismus und Gier anderen bringen und selbst uns holen. Entsprechend wählt Manemann als biblisches Motto einen Scharniertext zwischen Altem und Neuem Testament: das Magnifikat nach Lukas. Nachdrücklich erinnert er an den drängenden, „apokalyptischen“ Grundzug der ganzen Bibel und nicht zuletzt der Jesus-Botschaft. Was in Jesus Christus endgültig schon „geglückt“ ist, soll endlich überall wahr werden. Deshalb gehören Trauer und Mitleidenschaft, Möglichkeitssinn und Widerstandskraft in die Mitte christlicher Hoffnung. „Gott zu erkennen heißt fühlen, was ungerecht ist.“ (Durchgängig schreibt Manemann „G-tt“, um dem Unfassbaren und Unsagbaren seiner Treue zu entsprechen.)

Wie „pharaonisch“ die gegenwärtigen Welt- und Selbstverhältnisse sind, kommt natürlich in den gegenwärtigen Klimakrisen zum Ausdruck: ökologisch, sozial, politisch bis in einen entfremdeten Lebensstil hinein. Alles gerät unter Vernutzungsdruck und muss ver- und zuvor bewertet werden. Ganz im Sinne päpstlicher Stellungnahmen spricht Manemann mit Redecker von „kapitalistischer Sachherrschaft“, die anonym alles bestimmt und unter Leistungs- wie Verwertungsdruck stellt. Der Subjektcharakter der Arbeit geht verloren, Abstiegs- und Zukunftsängste nehmen zu, die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich, rechtsextremes und faschistisches Denken macht sich breit. Manemanns Bemühen, ökologische, soziale und existentielle Krisen systemisch zusammen zu lesen, ist ausgesprochen hilfreich, so plakativ und skizzenhaft es notgedrungen noch bleibt.

Jedenfalls ist für Christen und Kirchen längst der Status confessionis gegeben. Es braucht „eine nachbürgerliche Initiativkirche“ (Metz), die die utopischen Ressourcen biblischer Verheißung selbst wirklich ernst nimmt und offensiv im gesellschaftlichen Kontext bezeugt. Nicht zufällig ist ja der prophetische Programmtext des Papstes „Laudato si“ zugleich Schöpfungs- und Sozialenzyklika: Bewahrung der Schöpfung und Gerechtigkeit und Frieden sind christlich untrennbar. Es bräuchte dann sehr viel mehr geistliche Trauer- und Wutarbeit angesichts entfremdeter Verhältnisse, mehr Mut zu zivilem Ungehorsam und in allem jene kritische- und kreative Empathie- und Solidararbeit, die konsequent von den Opfern her denkt. Kirche habe „das sichtbare Projekt der Liebe Gottes zur Menschheit“ (Paul VI.) zu sein – und sich von ihrer bisherigen „konstantinischen“ Sozialgestalt zu befreien und endlich „mundial“ und wirklich katholisch zu werden, heraus aus der bürgerlichen Gefangenschaft. Dass solche „Exoduspolitik“ (und -spiritualität!) schmerzhaft auf die Macht struktureller Sünde in Gestalt von Veränderungsangst und Gleichgültigkeit trifft, ist klar. Aber die Kraft des Biblischen zeigt sich nicht zuletzt in der Bereitschaft, jenes Leiden durchzustehen, „das aus dem Kampf gegen Gewalt und Leiden erwächst“.

Manemanns bedrängendes Plädoyer dient hervorragend zur Gewissenserforschung und Neujustierung, zumal immer die Praxis im Blick ist. Natürlich bedarf es weiterer Vertiefung und kritischer Fortschreibung – z.B. hinsichtlich der Frage von Gottesglaube und Welt- wie Selbstveränderung. Lapidar ist ja die Auskunft Jesu: „Bei Menschen ist es unmöglich“. Woher also die Motivation nehmen zum Exodus? Bloßer Leidensdruck genügt nicht, genaues Denken, guter Wille und begründeter Appell allein auch nicht. Was also heißt, wirklich an Gott zu glauben und „aus den eigenen Quellen zu trinken“ (wie Gustavo Gutierrez zur „Mystik der Befreiung“ schrieb). Sehr zutreffend sieht Manemann die notwendige Aufbruchsarbeit mit Abbruch, Abschied und Trauer verbunden. Dazu gehört die schmerzliche Aufarbeitung der Frage, warum Theologie und Kirche besonders hierzulande so unpolitisch sind, jedenfalls im Vergleich zur damaligen Theologie der Befreiung. Auch mit der Frage, warum die zentrale Botschaft des jetzigen Papstes so wenig in ihrer gesamtgesellschaftlichen Brisanz ernst genommen wird und offenkundig große Ängste auslöst und freisetzt. – Kurzum: „einsame“ Spitze und wirklich Vollwertkost.

Ein Plädoyer
X-Texte zu Kultur und Gesellschaft
Bielefeld: transcript Verlag. 2021
158 Seiten
18,00 €
ISBN 978-3-8376-5906-1

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