Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Karl Erich Grözinger: Jüdisches Denken. Theologie – Philosophie – Mystik

Mit „Meinungen und Richtungen im 20. und 21. Jahrhundert“ ist jetzt der fünfte und letzte Band von Karl Erich Grözinger „Jüdisches Denken. Theologie, Philosophie und Mystik“ erschienen. Das monumentale Standardwerk beginnt mit der Bibel (Band 1) und schließt mit der Jüdischen Philosophie im 21. Jahrhundert (Band 5). Unter „Jüdischem Denken“ versteht Grözinger allerdings nicht nur die Philosophie im engeren Sinn, sondern auch das theologische und mystische, das politische und das konfessionelle Denken, kurz jede Art von Denken, in der das Judentum seine Quellen, seine Aufgaben, seine Existenz durchdacht hat.

Der Verfasser geht in der Regel monographisch vor und präsentiert Denker (in Band 5 auch Denkerinnen) und Werke. Wobei er immer wieder die drei Gegenstände der metaphysica specialis durchdekliniert: Gott, Welt und Mensch bzw. deren Bilder. Diese Schwerpunkte tragen zur Vergleichbarkeit über weite historische Strecken bei. Größere geistesgeschichtliche Bewegungen charakterisiert Grözinger mit Hilfe von „Paradigmen“ oder „Modellen“, nach denen die Verhältnisse von Gott, Welt und Mensch jeweils gedacht wurden. Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis von Band 2 „Von der mittelalterlichen Kabbala zum Hasidismus“ zeigt schon, auf welche Denkabenteuer man sich gefasst machen muss. Die Modelle heißen: „Sefirotisch-Gnostisierend“, „Sefirotisch-Onomatologisch“, „Philosophisch-Glossosophisch“, „Komosophisch-Wissenschaftlich“, „Alphabetologisch-Panentheistisch“. Die abschreckende Nomenklatur beschreibt jedoch präzise die eigenen und zum Teil eigenartigen Denkvoraussetzungen, in die der Leser sich hineinversetzen muss, will er die beschriebenen Werke aus der Innenperspektive verstehen und ihre Folgerichtigkeit aus ihrer eigenen Logik nachvollziehen. Unter dieser Rücksicht ist der „Pentateuch“ Grözingers, wie ein anderer Rezensent die fünf Bände aus 3764 Seiten Text mit 137 Seiten downloadbarer Bibliographie genannt hat, vor allem eine hermeneutische Glanzleistung. Grözinger versteht es, mit nie erlahmendem Einfühlungsvermögen fremde Denksysteme und -diskurse zu erschließen und für einen modernen Leser zu eröffnen. Dabei bedient er sich abgesehen von jener Nomenklatur einer klaren Sprache und folgerichtigen Argumentationen. Man würde sich solche Summen des christlichen und des islamischen Denkens wünschen!

Der vorliegende 5. Band thematisiert das „Jüdische Denken“ im 20. und 21. Jahrhundert, das man auch das „Jüdische Jahrhundert“ genannt hat (Martin Gilbert, Yuri Slezkine). In diesem Jahrhundert verlässt das Jüdische Denken die jüdische Enklave, wie die Meisterdenker des Neukantianismus (Hermann Cohen und Ernst Cassirer), der Phänomenologie (Edmund Husserl, Max Scheler und Edith Stein) und der Dialogphilosophie (Martin Buber, Franz Rosenzweig, Emmanuel Lévinas) bezeugen, und wird im wahrsten Sinne des Wortes zur „Weltweisheit“. Grözinger behandelt in seinem Werk freilich immer nur solche jüdischen Denker, die sich wie Buber, Rosenzweig oder Lévinas in ihrem Denken zugleich auch auf ihr Judentum zurückbeziehen. Das Judentum war im 20. Jahrhundert extremen Schwankungen ausgesetzt: zwischen Hochassimilation und religiösem Revivalismus im Interbellum, zwischen Völkermord und nationaler Renaissance in der Mitte des Jahrhunderts, zwischen Säkularismus und Emanzipationsbewegungen (Sozialismus, Antirassismus, Feminismus) auf der einen Seite und Konfessionalismus und Fundamentalismus auf der anderen Seite in der letzten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Diese Herausforderungen haben im jüdischen Denken tiefe Spuren hinterlassen, wie Grözinger im vorigen und in diesem Band anhand von vielen, zum Teil weniger bekannten Denkerpersönlichkeiten zeigt. Themen wie Traditionsbruch, Stellung der Frau, Weltverbesserung und Naturerhaltung (Tikkun HaOlam) sind natürlich für christliche Leserinnen und Leser instruktiv, da sich die Kirche vor ganz ähnliche Fragen und Antworten gestellt sieht. Das alte Wort von John Donne: Kein Mensch ist eine Insel, das gilt natürlich auch für religiöse Menschen und besonders für Religionen.

Die fünfbändige Darstellung des jüdischen Denkens von der biblischen Zeit bis in die Gegenwart, die durch Begriffsschärfe und beeindruckende Stringenz fasziniert, bietet ein anspruchsvolles und zugleich gut verständliches Leseerlebnis. Entstanden sind eine unschätzbare Fundgrube und ein wissenschaftliches Standardwerk auf höchstem Niveau, nicht allein für Judaisten.

Band: 5 Meinungen und Richtungen im 20. und 21. Jahrhundert
Frankfurt / New York: Campus Verlag. 2019
856 Seiten
82,00 €
ISBN 978-3-593-51107-8

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