Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Karl Josef Kuschel / Shahid Alam: Goethe und der Koran

Seit Katharina Mommsens Buch „Goethe und die arabische Welt“ von 1988 ist Karl Josef Kuschels Werk ein zweiter Versuch, in einer Monografie Goethes Verhältnis zur Welt des Orients zu erhellen. Als ausgezeichneter Kenner des interreligiösen Dialogs legt Kuschel den Akzent auf Goethes Beziehung zum Propheten Mohammed und zum Koran, während der allgemeine kulturhistorische Horizont am Rande bleibt.

In einem ersten Teil des Buches stellt Kuschel sämtliche Texte zusammen, die der Dichter innerhalb eines halben Jahrhunderts, von 1772 an bis zur endgültigen Gestalt des „West-östlichen Divans“ 1827, mit Anspielungen auf den Koran und auf den Propheten des Islams geschaffen hat. Die frühesten Zeugnisse sind Auszüge aus dem Koran, die Goethe überwiegend aus D. F. Megerlins Koran-Übersetzung „Die türkische Bibel“ von 1772 übernommen hat; einiges geht auf eine lateinische Koran-Version von 1721 zurück, ein Zeichen, wie umsichtig schon der junge Goethe die Koran-Rezeption im Abendland aufnahm. Die Texte sind vorsichtig modernisiert und vollständig, wie ein Vergleich mit jüngeren textkritischen Goethe-Ausgaben zeigt. Es folgen sodann die drei Fragmente der „Mahomet“-Tragödie aus derselben frühen Schaffenszeit des Dichters: Mahomets Hymnus an den „allliebenden“ Gott, sein Dialog mit seiner Pflegemutter Halima, der Wechselgesang von Ali und Fatema. Anschließend gibt Kuschel Goethes Erläuterungen zum geplanten „Mahomet“-Drama wieder, die allerdings erst mehr als vierzig Jahre später entstanden sind und gedruckt wurden. Der „West-östliche Divan“ ist mit 32 Gedichten mit Koran- oder Islam-Bezug sowie einem aus den Paralipomena zu dem Zyklus vertreten. Umfangreiche Auszüge aus dem Prosateil des „Divans“ ergänzen die Gedichtauswahl. Ankündigungen und Selbstzeugnisse Goethes bilden den Abschluss des Textteils, so dass dem Leser ein erschöpfendes Kompendium der sämtlichen Äußerungen des Dichters zum Thema geboten wird. Wer bei Kuschel eine vollständige Analyse des „West-östlichen Divans“ sucht, wird allerdings enttäuscht werden. Aus dem „Buch Suleika“, dem zentralen und umfangreichsten Buch des Zyklus, hat der Verfasser nur ein einziges Gedicht aufgenommen: offenbar sieht er keine Wege von der Liebe zwischen Hatem und Suleika zur religiösen Welt des Koran oder des Islam.

Das Kernstück des Buchs ist der zweite Teil, in dem der Verfasser die Texte kommentiert und deutet. Besonders interessant sind hier die Passagen, die den Einfluss von Johann Gottfried Herder auf Goethes Koran-Verständnis von dessen Straßburger Studienzeit an behandeln, ein Einfluss, der Goethes Islambild dauerhaft mitbestimmt. Herder ist hier noch wichtiger als Lessing, der im Übrigen in dieselbe Richtung einer positiven Bewertung des heiligen Buchs der Mohammedaner und des Propheten Mohammed weist. Die Gegenpositionen vertreten auf theologischer Seite die Orthodoxen jeder Couleur und der Aufklärer Voltaire mit seiner Tragödie „Le Fanatisme ou Mahomet le Prophète“ von 1739, die Goethe entgegen seinem eigenen Mohammedbild auf Anordnung seines Herzogs1799 in Weimar auf die Bühne bringen muss. 1772/1773 unternimmt Goethe den Versuch eines Mahomet-Dramas, das Kuschel im Kontext der Sturm und Drang-Poetik des Dichters deutet, und infolgedessen weniger theologisch um Verkündigung eines strikten Monotheismus bemüht, als vielmehr philosophisch, genauer: spinozistisch durchwirkt: „An jeder stillen Quelle, unter jedem blühenden Baum begegnet er mir in der Wärme seiner Liebe.“ Besonders bedenkenswert ist der Versuch, anhand des Plans von 1814 der dialogischen Hymne von Ali und Fatema ihren Platz in dem Stück zu geben: im 4. Akt, unmittelbar vor der Peripetie, vor der Katastrophe des Propheten, mit der das Drama eine entscheidende Wendung nehmen sollte. Die Korruption durch ungezügeltes Machtstreben verdrängt die ursprünglichen reinen Absichten, bis sich am Ende die edlen Gesinnungen doch durchsetzen. Kuschel interpretiert die Handlung des Stücks als Zeugnis für Goethes zunehmend kritische Haltung gegenüber den Ansprüchen von Prophetengestalten, wie sie Lavater und Basedow verkörpern, und führt dafür überraschenderweise die Geschichte von Aufstieg und Fall Napoleon Bonapartes ins Feld, die Goethe hautnah miterlebt habe. „Doch so viel tröstender war mir die Lehre, dass Ergebenheit in Gott von unserm Wähnen über Gott so ganz und gar nicht abhängt“ – dieser Satz aus Lessings „Nathan der Weise“ nimmt Goethes Haltung gegenüber den drei abrahamitischen Religionen, auch gegenüber dem Islam, vorweg. Obwohl der Dichter sich „vom Streit der Schulen und Katheder“, wie es im „Divan“ heißt, fernhalten will, hat er sich doch gründlich und unter Heranziehung der zu seiner Zeit besten Quellen mit der Theologie des Islam vertraut gemacht. Kuschel übersieht auch nicht, dass Goethe den Koran recht selektiv aufnimmt und die darin formulierten Rechtsnormen, die den Kern der Scharia bilden, übergeht. Es ist eine besondere Stärke von Kuschels Buch, dass es das herausarbeitet; es kommt zumal den Deutungen von Gedichten aus dem „Divan-Buch des Paradieses“ zugute.

Der dritte und letzte Hauptteil des Buches hat im Wesentlichen Appellcharakter und dringt auf eine zu praktizierende Toleranz der Religionen in versöhnter Verschiedenheit. In dieser Hinsicht ist nach Kuschel Goethe auch heute noch vorbildlich. Eine Zeittafel, ein umfassendes Literaturverzeichnis und ein Personenregister beschließen den Band, den man nicht ohne Gewinn sowohl für das Goethe- als auch für das Koran-Verständnis aus der Hand legt.

15 freigestellt wiedergegebene farbige Kalligrafien von Shahed Alam erscheinen dem des Arabischen unkundigen europäischen Auge zunächst als bibliophiles Ornament. Anhand von Kuschels Erläuterungen erweisen sie sich jedoch als integraler Bestandteil eines interreligiösen Dialogs, indem hier Textelemente aus Altem und Neuem Testament, aus dem Koran und sogar aus Goethes „West-östlichem Divan“ ineinandergewirkt sind und im Medium der Kunst miteinander kommunizieren.

Texte von Johann Wolfgang von Goethe
Kommentar von Karl Josef Kuschel
Kalligrafien von Shahid Alam

Ostfildern: Patmos Verlag. 2021
432 Seiten m. farb. Abb.
49,00 €
ISBN 978-3-8436-1246-3

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