Klaus Bäumlin: Die Urgeschichte (Genesis 1-11)

„Noch nie war die Zukunft so ungewiss wie heute. Sie ist tödlich bedroht. Die Menschheit steht am Abgrund ihrer bisherigen Geschichte.“ – Mit diesem Zitat beginnt Klaus Bäumlin seine Interpretation der Urgeschichte Gen 1-11; es stammt von A.M. Klaus Müller aus dessen Buch „Die präparierte Zeit“. Bei der Lektüre dieser eröffnenden Worte ist mir angesichts der brennenden Aktualität dieser Worte aufgrund der Ereignisse in der Ukraine ein eiskalter Schauer über den Rücken gelaufen. Selten haben mich Worte in einem theologischen Buch so angesprochen und zugleich auf die Lektüre des Buches neugierig gemacht, das ich mit Begeisterung „verschlungen“ habe. Klaus Bäumlin, ein schweizerischer evangelisch-reformierter Theologe und Pfarrer, hat die Gabe, biblische (Ur-!)Texte wissenschaftlich fundiert und auf dem neuesten Stand verständlich und aktuell auszulegen. Seine Sprache ist klar, seine Argumentationen nicht langatmig, seine Theologie ist biblisch und voller praktischer Lebensweisheit, die Abbildungen anschaulich, die zitierte Fachliteratur klug und ausgewogen gewählt. Aus den Interpretationen spricht ein Autor, der aus der Bibel lebt, die theologische Wissenschaft als Dienst zum Verständnis der Texte versteht und der vor allem eines kann: erklären.

Die Urgeschichte deutet der Verfasser als Weisheit und großartige Vision, die nicht nur vom Ursprung erzählt, sondern auch von der Zukunft und vom Ziel. Zudem erkennt er in Gen 1-11 eine Ouvertüre der ganzen Bibel, in der die großen Themen der Menschheitsgeschichte (Ebenbildlichkeit Gottes, Schuld, Sünde, Gewalt, Sterblichkeit) anklingen. Bäumlin erklärt die Korrelation der Urgeschichte mit ihrem geschichtlichen Entstehungskontext. Gen 1,1-2,4b, die erste Schöpfungserzählung, wird gerade erst in ihrer Tiefe verständlich, wenn das Chaos des babylonischen Exils als Kontext einbezogen wird. Spannend und anschaulich sind die Verweise auf Martin Bubers Bibelübersetzung und die Einbeziehung der chassidischen Weisheiten.

Das Büchlein hat einen gut strukturierten Aufbau: Nach einer Annäherung, in der der Verfasser Grundlinien der Urgeschichte (Weisheit, Ursprung und Ziel, universaler Horizont, Quellen) aufzeigt, nimmt er zunächst ausführlich die Anfänge, den ersten Schöpfungstext in Gen 1,1-2,4a, in den Blick. Er wählt bei seiner Interpretation Textelemente aus, die Menschen bis heute beschäftigen (biblisches Weltbild, Gottesebenbildlichkeit). Den zweiten Abschnitt widmet er der zweiten Schöpfungserzählung sowie den Sündenfallerzählungen Gen 3-4 unter dem Titel „Condition humaine“. Er macht auf die Unterschiedlichkeit der beiden Schöpfungstexte (Jahwist, Priesterschrift) aufmerksam, ohne zu verschweigen, dass diese Quellenhypothesen in der Exegese heute in Frage gestellt werden. Das Gewaltproblem wird mit Kain thematisiert. Die Frage „Wo ist dein Bruder?“ markiert er als Leitmotiv der gesamten Bibel. Bäumlin staunt über den Weitblick und Realismus der Texte, die den menschlichen Fortschritt thematisieren. Der dritte große Abschnitt nimmt Gen 6-9 unter dem Thema „Untergang und Errettung“ unter die Lupe. Zwei Ursachen für die Flutkatastrophe nennt er: eine menschliche (Bosheit der Menschen) und eine auf Seiten Gottes (Reaktion Gottes auf die Gewalttat des Kain). Aktuell sind seine abschließenden Reflexionen zum neuzeitlichen Rassismus, den er an der Gestalt des Ham thematisiert. Er spricht Klartext, indem er von Vorurteilen und Menschenverachtung spricht. Der vierte Abschnitt interpretiert die Völkertafel Gen 10 und ihre theologische Aussage, der letzte Abschnitt widmet sich der Zerstreuung der Menschheit in Gen 11. Bäumlin schießt mit einer Vision über die Urgeschichte hinaus, womit er Gen 11,10-32 und die universale Bedeutung von Gen 1-11 meint.

Die Interpretation der Urgeschichte von Klaus Bäumlin ist für die Praxis sehr zu empfehlen. Das Buch hat nur einen Nachteil: Es ist zu kurz!

Bibel heute lesen
Zürich: Theologischer Verlag Zürich. 2021
170 Seiten m. Abb.
14,90 €
ISBN 978-3-290-18420-9