Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Klaus Wengst: Wie das Christentum entstand

„Wie das Christentum entstand“, sollte uns nach 2.000-jähriger Geschichte und den Erkenntnissen, die wir mit Hilfe historisch-kritischer Analysen der biblischen und außerkanonischen Schriften erlangt haben, doch annähernd bekannt sein. Warum also lohnt es sich, darüber ein weiteres Buch zu verfassen oder zu lesen?

Der evangelische Neutestamentler Klaus Wengst nimmt jedenfalls an, dass selbst in kirchlichen Kreisen nicht immer klar sei, dass Jesus Jude und nicht „der erste Christ“ war und dass es mindestens mehrere Jahrzehnte gedauert hat, bis die an Jesus Glaubenden ein Bewusstsein und Selbstverständnis als eigene religiöse Gruppierung neben dem Judentum entwickelt haben. Dieser These geht er in seiner „Geschichte mit Brüchen im 1. und 2. Jahrhundert“ in einer dreistufigen Annäherung nach, in der er von einem jüdischen Anfang des Christentums ausgeht, sodann Bruchstellen ab dem jüdisch-römischen Krieg (ab 67 n. Chr.) aufdeckt und zuletzt die Zeitspanne „Im und nach dem Bruch“ (100–150 n. Chr.) als Phase des Auseinandertretens von Judentum und Christentum beleuchtet.

Breiter Forschungskonsens und nicht etwa Novum ist, dass Jesus sich ganz im Judentum verankert sah und auch die ersten Christen sich dem Judentum zugehörig fühlten. Relativ unbekannt und befremdlich dürfte jedoch für viele Wengsts Blickwinkel sein, dass sich über Jahrzehnte seit Jesu Tod kein eigenes „christliches“ Selbstverständnis der an Jesus Glaubenden entwickelt habe, es also zunächst keinen Gegensatz zwischen Judentum und „Christentum“ gab, da noch nicht von „Christentum“ gesprochen werden könne. Diese These ist bei aller begrüßenswerten Dialogbereitschaft gegenüber dem Judentum aber für das Selbstverständnis christlicher Kirchen irritierend, gehen diese doch zumindest von einem nachösterlichen, die christliche ekklesía generierenden pfingstlichen Impuls in unmittelbarer Nähe zu Jesu Tod aus. Wengst hingegen plädiert für eine Spätdatierung ohne Kirchengründung um die Jahrhundertwende, bei der sich erstmals eine Gemeinschaft als eigene Größe neben dem Judentum erkennen lasse. Die ersten Jesusgläubigen als erste Christen zu bezeichnen sei eine unzulässige anachronistische Sicht und angesichts des Holocaust „ignorant“ (338), da sie judenfeindliche Narrative weiter verfestige. Jedoch blendet Wengst jede wissenschaftliche Debatte wie auch diejenige um das Jude- oder Christsein des Paulus aus (z.B. diejenige M. Wolters gegenüber M. Tiwald in seiner überzeugenden Annahme der „einen“ jüdischen und christlichen Identität des Paulus ohne übergeordnete jüdische Identität), denn ein einschlägiges Literaturverzeichnis oder zumindest Literaturangaben in Anmerkungen sucht man im Buch vergeblich. Nicht nur die späte und von Antiochien ausgehende Selbstbezeichnung als christianoi sollte als Differenzkriterium zum Judentum berücksichtigt werden, sondern auch das frühe Christusbekenntnis und die von den jüdischen Reinheitsgeboten unabhängige Soteriologie, ohne dass gleich der jüdische Mutterboden mit dem Christusbekenntnis verlassen würde.

Als Aufgabe einer zukünftigen Betrachtung der Entstehung des Christentums schlägt Wengst abschließend einen Dreischritt vor: 1. Der christliche Absolutheitsanspruch mit seinem Wahrheitsverständnis verhindere religiöse Toleranz und versperre eine Wiederentdeckung des biblisch-jüdischen Verständnisses von Trinität. Damit stellt Wengst aber auch die Göttlichkeit Jesu zur Disposition, die erst durch späte hellenistische Einflüsse Einzug ins Christentum gefunden habe, bei den jüdischen Jesusanhängern jedoch noch nicht so unbefangen hervorgetreten sei, allenfalls bei Johannes (vgl. 323). Diese Hypothese dürfte nicht unwidersprochen bleiben. 2. Christen sollten es bei der Lektüre des AT „verlernen, diesen Teil ihrer Bibel zu ‚nostrifizieren‘“ (343), da dies den Dialog mit dem Judentum erschwere. 3. Interreligiöses Lernen zur Förderung von Respekt und Toleranz sei wichtiger denn je, da der christliche Antijudaismus ein Produkt der Geschichte sei und nicht essenziell zum Christentum gehöre. Alle biblisch dokumentierten Auseinandersetzungen der Jesusanhänger mit dem Judentum seien als rein innerjüdische Konflikte zu werten.

Dass Wengst hier ein sich dynamisch entwickelndes spezifisch christliches Selbstverständnis in Abgrenzung zu den unterschiedlichsten religiösen Parteiungen der Spätantike von vornherein negiert, führt zu einer verengten Sicht des komplexen historischen Kontexts. Mit der nötigen kritischen Distanz gegenüber allzu streitbaren theologischen Hypothesen lohnt sich die Rückbesinnung auf den vorgestellten dreiteiligen Perspektivwechsel dennoch, um den hartnäckig fortwirkenden antijüdischen Narrativen der Moderne und der aktuellen Rückkehr des Antisemitismus in die Mitte der Gesellschaft entgegenzutreten und dies Schülerinnen und Schülern, Studentinnen und Studenten sowie allen interessierten Personen angemessen vermitteln zu können. Als innovativer Impuls eignen sich hierzu besonders die von Wengst literarisch gestalteten fiktiven „Inszenierungen“ biblischer Geschehnisse (z.B. 89f.). Diese erleichtern den Zugang zu den biblischen Texten und können den Religionsunterricht didaktisch bereichern.

Eine Geschichte mit Brüchen im 1. und 2. Jahrhundert
Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. 2021
351 Seiten
22,00 €
ISBN 978-3-579-07176-3

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