Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Konrad Ott: Zuwanderung und Moral

Müssen wir alle Flüchtlinge aus Krisengebieten und alle Migranten, die ein besseres Leben bei uns suchen, in Deutschland aufnehmen? Diese Frage beschäftigt viele Menschen seit der massenhaften Zuwanderung im letzten Jahr zutiefst. Der Philosoph Konrad Ott nimmt die öffentliche Diskussion zum Anlass für eine ethische Analyse und kritische Prüfung der moralischen Argumente für und wider die Aufnahme von Migranten. Seine eigene, zuwanderungsskeptische Position verbirgt er keineswegs. Sie wird nicht nur in der Einleitung deutlich, sondern bestimmt auch die Anlage des Büchleins. Die Rekonstruktion der migrationsethischen Debatte erfolgt nämlich entlang des Max Weber entnommenen Schemas von Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Dabei kommt, wie man weiß, die Gesinnungsethik schlecht weg: Gesinnungsethikern geht es nämlich zuallererst um die Wahrung des Prinzips. Um die Folgen ihrer Prinzipientreue scheren sie sich nicht. Verantwortungsethiker hingegen sind flexibler und wägen Vor- und Nachteile, Kosten und Nutzen für alle Betroffenen sorgfältig ab. Gesinnungsethisch argumentieren vor allem, so Ott, linksstehende Politiker und Medienleute, Akademiker und Kirchenvertreter, wenn sie die moralischen Rechte auf Rechtsschutz und auf Unterstützung für Flüchtlinge und Migranten, die an den europäischen Grenzen anlanden, ganz nach vorne stellen. Dabei weiten sie nicht nur den Begriff des Flüchtlings inflationär auf alle irgendwie Notleidenden aus, sondern verfallen einem unhaltbaren moralischen Maximalismus: Die menschenrechtlich begründeten Pflichten des Staates gegenüber ankommenden Schutzsuchenden sind prinzipiell unbegrenzt und beinhalten nicht allein, ihnen Aufnahme und Unterstützungsleistungen zu gewähren, sondern erfordern zusätzlich, ihnen risikoärmere Zugangskorridore aus den Krisengebieten heraus einzurichten. Dass eine solchermaßen begründete „Willkommenskultur“ enorme Sogwirkungen auf alle global Schlechtergestellten ausübt, muss den Gesinnungsethiker nicht beunruhigen. Seine zutiefst unpolitische Einstellung hat ihre grundsätzliche Ursache Ott zufolge im normativen Individualismus und der „overridingness“, mit der moralische – menschenrechtliche – Normen ausgestattet werden. Moralische Gründe, so diese Position, zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie gegenüber allen anderen Gründen – politischen, kulturellen, ästhetischen,… – unbedingten Vorrang beanspruchen. Auf dieser Basis ist eine Überforderung des Aufnahmelandes aber kaum je gegeben und sind Zuwanderungsbeschränkungen nicht zu begründen. Die Gesinnungsethik führt, so Ott, zu offenen Grenzen und einem faktischen Bleiberecht für alle.

Verantwortungsethiker hingegen, die Ott im Rechtssystem und in liberal-konservativen Kreisen in Medien und Politik ausmacht, gehen viel pragmatischer, umsichtiger und folgenorientierter vor. Auch sie sind nicht prinzipienlos, aber wesentlich kritischer, was die anerkennungswürdigen Fluchtgründe und was die Mitwirkungspflichten der Asylsuchenden bei den Verfahren betrifft. Die Schutzpflichten gegenüber politisch Verfolgten und Kriegsflüchtlingen ergeben zudem nur ein temporäres Aufnahmerecht, das mit dem Entfallen des Asylgrundes endet. Jede weitere Bleibe- oder Zutrittsgewährung kann sich legitimerweise an den demokratisch bestimmten Interessen des Aufnahmestaates orientieren. Moralisch sei auch nicht zu beanstanden, dass Nicht-Staatsbürger damit zu reinen Objekten der Politik werden, weil es diskursethisch gesehen genüge, wenn Ausländer- und Einwanderungsgesetze vor einem universellen Auditorium wie den Vereinten Nationen gerechtfertigt werden könnten. Der moderne Wohlfahrtsstaat ist zudem, so ein weiteres Argument, eng mit dem Konzept des Nationalsstaats verbunden, der wirksam die Hoheit über seine Grenzen innehat. Offene Grenzen führen daher aus verantwortungsethischer Sicht zum Ende wohlfahrstaatlicher Arrangements und zur gesellschaftlichen Desozialisierung. Ott spricht sich daher verantwortungsethisch dafür aus, wirksame „Abreize“ gegen Migration zu schaffen und die Anerkennung von Fluchtgründen zu reduzieren. Dies soll freilich auf dem Boden des geltenden Völkerrechts und unter Wahrung der Menschenwürde der Betroffenen geschehen. Er entwirft schließlich eine „politische Ökonomie“ der Migration, mit der Wanderung durch solche negativen Anreize so gesteuert werden soll, dass die legitimen Interessen aller Betroffenen, aber eben auch die staatliche Steuerungsfähigkeit, gewahrt werden. Diese mündet in eine Zehn-Punkte-Liste, wie Ott sich die verantwortungsethische Konkretion der Zuwanderungsbegrenzung vorstellt, die er selbst als heikel und als Diskussionsanstoß bezeichnet.

Das Büchlein kommt sachlich daher, aber sein Anliegen ist polemisch: Es will die Auseinandersetzung über den ethisch vertretbaren Kurs in der Flüchtlings- und Migrationspolitik aufrütteln und voranbringen. Das gelingt auf einem hohen argumentativen Niveau. Wer sich selbst oder andere zu einem anspruchsvollen Widerspruch herausfordern möchte, findet hier eine Vorlage.

 

Stuttgart: Reclam Verlag. 2016

94 Seiten

6,00 €

ISBN 978-3-17-022500-8

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