Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Kristian Fechtner / Christian Mulia (Hg.): Henning Luther

Henning Luther, 1986-1991 Lehrstuhlinhaber für Praktische Theologie an der Evangelischen Fakultät in Marburg, hat die zeitgenössische Praktische Theologie maßgeblich geprägt. Formulierungen wie „Leben als Fragment“, „Schmerz und Sehnsucht“ sind Wendungen, die leitmotivisch in die Theologie und in die pastorale Praxis eingegangen sind und breit nachwirken. Seine kurze Lebenszeit von 43 Jahren hat Luther genutzt, um wichtige Impulse in die Praktische Theologie einzubringen. Deren Bedeutung wird auch religionspädagogisch hoch angesiedelt; so empfiehlt der Lehrplan Evangelische Religion der Gymnasialen Oberstufe in Rheinland-Pfalz Luthers Buch „Religion und Alltag“, um im Themenbereich „Mensch“ die Rechtfertigungslehre zu erschließen.

Die Herausgeber des Sammelbands haben sich die Aufgabe gestellt, den Beitrag Luthers für die heutige Praktische Theologie zu vergegenwärtigen. Er steht als Schlüsselfigur für den Perspektivwechsel der Praktischen Theologie hin zu einer subjekt- und lebensweltorientierten Wissenschaft. In seinen Texten kommt ein bestimmtes Lebensgefühl zum Ausdruck, das sich vor allem in den späteren Werken in einer individuell geprägten Sprachmacht zeigt.

Der Sammelband ist dreigeteilt: In den Kapiteln „Grundlinien“ – „Handlungsfelder“ – „Lesarten“ bearbeiten 11 Wissenschaftler/innen verschiedene Denkanstöße Luthers; der Schwerpunkt liegt mit sechs Beiträgen auf den „Handlungsfeldern“. Eine Auswahlbibliographie, der wissenschaftliche Werdegang sowie zwei Fotografien runden den Band ab. Luther-Experten werden sich zunächst dem Text „Paradoxe Institution. Zum Funktionswandel des Pfarramts im Individualisierungsprozess“ zuwenden – ein bislang unveröffentlichtes Manuskript, das Luther für einen Gastvortrag im Sommersemester 1991 geschrieben hat. Neu-Lutheraner werden vorne zu lesen beginnen und die Grundlinien (Andrea Bieler, Harald Schroeter-Wittke, Gerald Kretzschmar) als Hinführung nutzen können.

Für den Bildungskontext ist der Beitrag von Christian Mulia („Heilsame Unruhe. Religiöse Bildung als kritisch-kreativer Umgang mit Differenzerfahrungen“) interessant. Er konturiert Luther als Anwalt des Einzelnen und dessen autonomer Selbstentfaltung angesichts gesellschaftlicher, kirchlicher, kultureller und traditioneller Rollenerwartungen. Die Frage nach dem religiös mündigen Subjekt treibt ihn angesichts sich vollziehender Wandlungen im Theologiestudium und in der Kirche hin zu einer subjektorientierten Praktischen Theologie. Mulia skizziert Luthers Ansatz der „Fragmentarischen Identität“, der die Verletzlichkeit und die Erfahrung von Brüchen einbezieht und sich keineswegs auf den Erfahrungsbereich der Religion beschränkt, sondern vielmehr Leben und Lernen in einer ganzheitlichen, auch religiösen Perspektive einbezieht. Religion ist für Luther nicht mit Begriffen wie „Trost, Halt, Geborgenheit, Heimat, Grund, Beruhigung, Gewissheit“ zu assoziieren, sondern eher „mit Vorstellungen von Fremdsein, Heimatlossein, Verunsicherung, Aufbruch, Unruhe“. Subjektorientierung heißt religionspädagogisch: Die Achtung der Lebensalter, die Biographizität religiöser Lernprozesse, die Authentizität von Religionslehrer/innen, die Differenzerfahrung in interreligiöser Begegnung werden wesentlich.

Ein Religionsunterricht, der als „Wahrnehmungs- und Ausdrucksschulung“ verstanden wird, ist anschlussfähig an die ästhetischen Überlegungen Luthers, dass Erwartungen und Sehgewohnheiten schockiert und provoziert werden, um Umkehr und Veränderung zu ermöglichen. Die Diskussion um Performativität sieht Mulia in der zwar theoretisch durchformulierten, aber sinnlich-leiblich geprägten Theologie Luthers durchaus vorgedacht.

„Spätmoderne Predigt. Homiletische Perspektiven im Nachgang zu Henning Luther“: Lesenswert für alle, die regelmäßig predigen, ist diese Bündelung von Kristian Fechtner zum homiletischem Ansatz, der auch nach 30 Jahren noch zum „zeitgenössischen Diskurs der Homiletik“ gehört. Als Hebammenkunst verstanden, entbindet die Subjektivität des Predigenden die Subjektivität der Hörenden in einer kommunikativ gelingenden Predigt. Der Zugang zum Evangelium ist nicht ein „privilegierter“, sondern muss sich als „glaubwürdiger“ bewähren: Wer predigt, ringt um eine „diskrete Subjektivität“. Luther hat den Begriff des „inszenierten Textes“ in den Predigtdiskurs eingebracht und die Darstellung, das szenische Geschehen, als mindestens gleichrangig zum Predigtmanuskript betrachtet. Angesichts dessen erstaunt, dass Luther die Liturgik weitgehend ausklammert; Raum und Ritual sind Themengebiete, die auf evangelischer Seite erst von der jüngeren Praktischen Theologie wahrgenommen werden.

Persönlich interessiert mich natürlich der Beitrag „Henning Luther – Katholisch gelesen“ des Innsbrucker Pastoraltheologen Christian Bauer. Über die Konfessionsgrenze hinweg ist er nämlich längst „vom Geheimtipp zur Pflichtlektüre“ avanciert. Luther legt die Finger in die Wunde einer (nicht nur katholischen) Theologie, die das Kollektivsubjekt Kirche betrachtet, ohne die darin handelnden Subjekte als solche zu erkennen. Sein Impuls, die Ekklesiozentrik zu durchbrechen und die Anthropozentrik zu stärken, begegnet auch in katholischer Pastoraltheologie (Metz, Rahner). Bauer sucht unerschrocken nach einer „katholischen Tiefengrammatik“ der Luther‘schen Theologie. Er macht sie in ihrem „diskursiven Untergrund“ aus, erarbeitet dies jedoch mehrheitlich in einer Zitatenschlacht.

Fazit: Henning Luther prägt – und er wird verehrt. Dieser Tenor spricht aus den wertschätzenden Beiträgen dieses Sammelbands; sie eröffnen einen soliden Zugang zu einer profilierten theologischen Position des 20. Jahrhunderts.

 

Praktische Theologie heute Bd. 125

Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag. 2014

208 Seiten

29,90€

ISBN 978-3-17-022500-8

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