Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Lars Allolio-Näcke: Anthropologie und Kulturpsychologie der religiösen Entwicklung

Lars Allolio-Näcke legt in seinem Band, der zugleich seine 2014 abgeschlossene Habilitationsschrift darstellt, den Entwurf einer „kulturpsychologischen Theorie der religiösen Entwicklung“ vor. Mit einem vorangestellten Zitat Ernst E. Boeschs und in seinem Vorwort macht der Autor klar, dass er Ansätze der akademischen Psychologie zur Religionspsychologie für nicht weiterführend hält und in einer an Boesch orientierten Kulturpsychologie die Lösung sieht.

So beginnt die Gliederung der Arbeit zunächst auch mit einer Betrachtung des Verhältnisses von Theologie und Psychologie, die der Autor in einem großen historischen Bogen mit der Säkularisierung der Universitäten beginnt (Kap. 1). Die Theologie kommt fast ausschließlich als protestantische Theologie zur Sprache. Differenziert ist seine Suche nach Konvergenzen zur Theologie an den Standorten der ersten deutschsprachigen Institute für Psychologie mit dem wenig überraschenden Ergebnis, dass es solche nicht gibt (Kap. 2). Systematisch untersucht Allolio-Näcke im Anschluss den Ort von Konzepten des religiösen Erlebens wie „Transzendenzerfahrung“ oder „Glaube“ in der Psychologie (Kap. 3).

Einen großen Raum nehmen Darstellung und Kritik theologischer Entwicklungsmodelle zur Religiosität ein, die er überwiegend für unzureichend oder gar unwissenschaftlich hält (Kap. 4). Zu Recht kritisiert er vor allem jegliche Ansprüche universaler Gültigkeit, die sich nicht empirisch belegen lassen. Nach einer Zusammenschau der Modelle (Kap. 5) legt er sein Verständnis dessen dar, was er als „Kulturpsychologie“ bezeichnet (Kap. 6), um deren spezifische Alternativen der religiösen Entwicklung darzustellen (Kap. 7) und einen eigenen Entwurf (Kap. 8) vorzulegen.

Formal ist das Buch recht solide gearbeitet und weist eine bemerkenswerte Zusammenschau unterschiedlicher Konzepte zu anthropologischen Grundlagen der Religiosität auf, die meines Erachtens allerdings eine Orientierung in diesem Feld voraussetzt. Inhaltlich greife ich drei Aspekte heraus, die einer gewissen Kritik bedürfen:
(1) Die Identifizierung des Autors mit seinem Ansatz einer – man könnte sagen – grundständigen Religionspsychologie als eigene Disziplin ist beeindruckend, neigt aber dazu, dass die Darstellung alternativer Ansätze einseitig ablehnend wirkt. Die allzu deutliche Abgrenzung scheint mir für eine Rezeption seines Ansatzes in der Wissenschaftspraxis der etablierten Disziplinen Theologie und Psychologie nicht zuträglich.
(2) Allolio-Näcke fordert für die von ihm abgelehnten Entwicklungsmodelle eine empirische Überprüfbarkeit und die Existenz von Studien. Dabei beurteilt er theologische Modelle aus psychologischer Perspektive und kritisiert mitunter, dass die theologischen Modelle psychologischen Kriterien nicht standhalten. Inwiefern sein eigenes Modell in empirisch überprüfbare Hypothesen umzusetzen ist – was grundsätzlich auch für qualitativ erarbeitete und phänomenologisch orientierte Theorien gelten muss –, bleibt offen. Es fällt auf, dass er großzügige Kritik an etablierten Modellen übt, gleichzeitig seine eigene Konzeption kaum einer kritischen Betrachtung unterzieht.

(3) Sein Modell steht in der Spannung, keinen Phänomenbereich des Religiösen auszuschließen und Religion dennoch spezifisch zu umgrenzen. Dies setzt er um, indem er in seiner kulturpsychologischen Sicht Religion in der intersubjektiven Funktion sieht, Gemeinschaft zu sichern und Erklärungsmodelle anzubieten. Er schließt das Buch mit dem Satz: „Das Alleinstellungsmerkmal erhält Religion einzig durch ihren Vollzug (in der Tradition) und durch den Umstand, dass es Menschen gibt, die sich einer Religion(sgemeinschaft) verpflichtet fühlen.“ (226) Deutlich wird daran die Entscheidung des Autors, nur das als Religion zu betrachten, was sich selbst explizit als Religion weiß. Dies ist möglich, stellt aber eine starke Annahme dar, die dazu führt, dass es so etwas wie „implizite Religiosität“ (Edward I. Bailey; Tatjana Schnell) nicht geben kann.

Insgesamt legt Allolio-Näcke ein Werk vor, das sich zur Vertiefung und Erweiterung religionspsychologischer Kenntnisse eignet und dabei etablierte, klassische Konzepte der religiösen Entwicklung kritisch betrachtet. Als Grundlagenwerk zur Einführung ist es weniger geeignet und bedarf in seinen Ergebnissen weiterer Diskussion.

Eine Religionspsychologie
Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag. 2022
243 Seiten m. Tabellen
39,00 €
ISBN 978-3-17-041050-3

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