Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Manfred Gailus: Gläubige Zeiten. Religiosität im Dritten Reich

Als sich die Deutschen im Jahr 1945 fragten, wie es zur Katastrophe kommen konnte, da besagte eines der angewandten Narrative, es habe schlicht einen Mangel an rechter Gläubigkeit vor und während des „Dritten Reiches“ gegeben; mit anderen Worten: Wären alle Deutschen gute Christen gewesen, hätten die nationalsozialistischen Verbrechen nie stattfinden können. Die Forschung hat diese Ansichten schon länger zurückgewiesen, insbesondere Olaf Blaschke hat auch auf die christliche Kollaboration aufmerksam gemacht und ihre nähere Analyse eingefordert. Das vorliegende Buch erfüllt diese Forderung nun mit Blick auf ein breites Publikum. Es widerspricht vehement und zu Recht der These, die „Hitlerzeit“ (so der vom Autor verwendete Terminus) sei eine Zeit der Säkularisierung gewesen.

Er legt sein Buch nach einer begriffsklärenden Einleitung in vier großen Kapiteln an, deren erstes sich den Grundlagen widmet. Das Jahr 1933 als „religiöses Erlebnis“ bildet den Auftakt, in dem überzeugend die wirklich religiöse Aufbruchstimmung beschrieben wird, die insbesondere im Frühjahr herrschte: Nach der ungeliebten und von vielen als „gottlos“ wahrgenommenen Republik kam nun ein Neuanfang mit Hitler als quasi messianischem Erlöser. Hier zeigt sich bereits die gedankliche Anlage des Buches: Es geht nicht um eine Darstellung der christlichen Konfessionen in den Jahren 1933-45, sondern der vorherrschenden Religiositäten; neben dem Protestantismus als Mehrheits- und dem Katholizismus als Minderheitskonfession bekommen die Formen nationaler Gläubigkeit (Deutsch- bzw. Gottgläubige) recht viel Raum, da sie für die gesellschaftlichen Dynamiken dieser Jahre stehen. Kleinere christliche Konfessionen, Sekten und religiöse Gruppen spielen in diesem Band keine Rolle. Neben den grundlegenden Darstellungen von Strukturen und Haltungen bietet der Autor exemplarische Analysen, mit denen die jeweiligen Religiositäten näher charakterisiert werden sollen; als solche „Testfälle“ dienen die Pogrome vom 9. November 1938 (von den Tätern als „Kristallnacht“ bezeichnet), der Krieg und die Shoah. Dabei unterstreicht Gailus, der als einer der führenden Forscher auf dem Feld gelten darf, überzeugend, dass die meisten Christen in Deutschland wohl keinen Widerspruch zwischen ihrem Glauben und der Politik des NS-Staates entdecken konnten, dass vielmehr Formen hybrider Religiosität vorkommen konnten – wenngleich im Protestantismus weitaus häufiger als im Katholizismus. Dass also auch mehrheitlich katholische Gebiete im Rheinland, in Westfalen und in Bayern die NS-Herrschaft weitgehend konfliktfrei akzeptierten und durchführten, war nur durch die Mitarbeit eben dieser katholischen Bevölkerung denkbar. Ein Narrativ, demzufolge beispielsweise ganze Kleinstädte geschlossen in der Opposition gewesen seien, kann daher wenig Plausibilität beanspruchen. Umso mehr schafft es Gailus gerade durch seine Analyse von Religiositäten, das Denken und Handeln der Deutschen zwischen 1933 und 1945 ein Stück weit verstehbarer zu machen.

Ebenso kann der Autor auch plausibilisieren, dass nationale Religiositäten im Jahr 1933 zwar hohe Attraktivität besaßen, im Lauf des Krieges und mit steigender Zahl an Kriegstoten aber diese Attraktivität verloren: Denn da sie sich nicht auf eine transzendente Größe beziehen konnten, blieben sie hinter der christlichen Praxis von Trauer und Trost zurück.

Es tut dem Buch gut, dass es von einem Historiker erarbeitet ist, der den Kirchen (damals wie heute) mit Distanz gegenübertreten kann. Gailus kommt an keiner Stelle in den Verdacht, Geschichte zum Vor- oder Nachteil der Kirchen zu schreiben. Gleichwohl bleibt er zwei Präzisierungen schuldig. Erstens: Was rechtfertigt es eigentlich, vom „Deutschglauben“ oder „Gottglauben“ als Religion zu sprechen? Hier wäre der im Literaturverzeichnis erwähnte bemerkenswerte Versuch von Klaus Vondung hilfreich, den Nationalsozialismus bewusst als säkulare Religion anhand der Kriterien von Dogma, Kult etc. zu beschreiben. Zweitens: Welche Vorprägungen müssten für die großen christlichen Konfessionen in Anschlag gebracht werden?

Dieser Rückfragen ungeachtet lässt sich das Buch in jedem Fall gewinnbringend lesen, wenn man bereits Grundkenntnisse in der Geschichte der christlichen Konfessionen in der „Hitlerzeit“ hat; diese freilich werden vorausgesetzt. Da Gailus quellennah und anhand vieler Beispiele argumentiert und sein Buch flüssig geschrieben sowie angenehm zu lesen ist, kann es allen Interessierten nur wärmstens empfohlen werden.

Freiburg: Herder Verlag. 2021
223 Seiten m. s-w Abb.
20,00 €
ISBN 978-3-451-03339-1

Zurück