Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Marius Reiser: „Und er wurde vor ihren Augen verwandelt“

Marius Reiser versetzt die Leser seines Buches „Und er wurde vor ihren Augen verwandelt" in gläubiges Staunen. Der Untertitel „Fiktion und Wahrheit in neutestamentlichen Geschichtserzählungen" veranlasst, das Rezeptionsverhalten hinsichtlich biblischer Schriften neu zu bedenken: Die im Rahmen des akademischen Studiums erworbene historisch-kritische Exegese beschneidet die Sicht auf den Textcorpus als einen rein literarischen Forschungsgegenstand, um Gattung und Herkunft zu bestimmen. Die Skepsis gegenüber der Historizität biblischer Geschichten stellt sich insbesondere bei der einzigartigen und im Titel zitierte Tabor-Erzählung ein.

Der Autor thematisiert in den ersten Buchkapiteln das aus der Leserperspektive aufgeworfene Spannungsverhältnis zwischen historischen Fakten einerseits und deren literarischer Darstellung andererseits. Er wirft unter dem Aspekt der antiken Geschichtsschreibung einen Blick auf außerbiblische Literatur, z.B. Homer; dessen große Epen wie die „Ilias“ basierten auf historischen Ereignissen. Jedoch habe der berühmte Dichter der Antike eine Auswahl vorgenommen, Schwerpunkte gesetzt und das Geschehen mit Phantasie ausgeschmückt, um den Wahrheitsgehalt seines Epos zu unterstreichen. Friedrich Schiller, der sich in seinen Dramen ebenfalls auf historische Stoffe bezog, idealisierte Ereignisse aus der Geschichte, damit das Symbolische und Wesenhafte für die Leser zum Vorschein kommen sollte. Schillers Intention war, im historischen Einzelfall das Typische und das Allgemeine zum Ausdruck zu bringen. Die Wahrheit biblischer Erzählung liege, so Reiser, in dem, was weit über das Faktische hinausweist und für die Leser lehrreich sowie bedeutungsvoll ist. Am Ende der beiden Einführungskapitel zum „Problem von Fiktion und Wahrheit" bemerkt der Autor hinsichtlich des Erwartungshorizontes auf historische Verifizierbarkeit der Evangelien: Diese seien keine Geschichtsschreibungen, enthielten aber sehr wohl einen geschichtlich wahren Kern.

Im zentralen Kapitel seines Buches analysiert Reiser die Erzählung von der Verklärung Jesu mit Blick auf historische Begebenheit und Symbolik. Die Taborszene beinhaltet die wahre wie symbolische Aussage des mit Ortsangabe verbundenen Offenbarungsgeschehens, das die menschlich-göttliche Doppelnatur Jesu Christi enthüllte. Zu Beginn seiner Ausführungen weckt der Autor das Leseinteresse mit Verweis auf den zweifachen Gedenktag am 6. August: Einerseits wird an diesem Tag das liturgische Fest der Metamorphose Jesu begangen, andererseits ist mit diesem Datum die Erinnerung an den Abwurf der ersten Atombombe im Jahre 1945 verbunden. Beide Male handelt es sich um „Lichtereignisse" konträrer Qualität: Das Fest feiert den Lichteinfall himmlischer Herrlichkeit mit eschatologischer Verheißung auf ewiges Leben, das zweite Ereignis erinnert an den Lichtblitz radikaler Vernichtung in Hiroshima.

Reiser verweist in intertextueller Lesart auf die zentrale Stelle der Tabor-Erzählung im Markusevangelium, von der alle inhaltlichen Fäden retrospektiv auf die Taufe Jesu und prospektiv auf das Ereignis in Getsemani zulaufen. Der Bibelwissenschaftler bemerkt: Tabor musste sein, um Getsemani ins rechte Licht zu rücken, und führt unter dem Aspekt literarische Gattung und Historizität aus: So komme es zu dem paradoxen Befund, dass der vorösterliche Jesus wenigstens für einen Augenblick die Natur des Erhöhten offenbarte, während der Erhöhte nach Ostern immer nur die Natur des Menschen Jesus von Nazaret zeigte. Die nachösterlichen Erzählungen vom Auferstandenen schildern ihn nicht, wie in der Taborszene erwähnt, mit überirdischem Leuchten, sondern betonen dessen Leiblichkeit. Diese Paradoxie zwischen vor- und nachösterlichen Erzählungen diene der Verkündigung, dass der nachösterliche Jesus Christus identisch mit dem vorösterlichen Menschensohn sei. Im Rahmen des intertextuellen Vergleichs zwischen alt- und neutestamentlichen Texten werden parallele literarische Motive bei Theophanie-Erzählungen erwähnt: Gleich der Gottesoffenbarung am Sinai werde das Taborgeschehen auf einen Berg verortet, um das Ereignis als aus den Niederungen des Alltäglichen Erhobenes darzustellen. Wie bei der Taufe am Jordan verkündet auf Tabor eine Stimme aus den Himmeln die Gottessohnschaft Jesu. Um die Singularität der biblischen Taborerzählung zu betonen, zieht Reiser den literarischen Vergleich zu paganen Mythen wie dem homerischen Demeterhymnus oder der Pythagoraslegende, in denen keine Metamorphosen innerer Wesenheit, sondern der rein äußerliche Wechsel körperlicher Erscheinungsweisen geschildert werden.

In seinem Resümee wertet Reiser die Tabor-Erzählung als eine biographische Anekdote, der eine wirkliche Begebenheit im Leben Jesu zugrunde liege. Das Kapitel wird mit einem Zitat des Schriftstellers Reinhold Schneider abgeschlossen; er schrieb mit Blick auf den Menschen, der ganz zeitlich geworden ist und nicht mehr über die Erde hinaus fragt: „Tabor leuchtet nicht mehr."

Das Buch von Marius Reiser ist eine empfehlenswerte Lektüre auch hinsichtlich der darin enthaltenen interessanten Ausführungen zu Historie und Symbolik der Weihnachtsgeschichte sowie der Seefahrts- Schiffsbrucherzählung aus der Vita des Apostels Paulus in Apg 27. Vielleicht veranlasst Reiser bei heutigen Lesern, die oftmals und leichtfertig Fake News für wahr halten, eine neue Wertschätzung biblischer Schriften, wenn das dort Geschilderte statt zeitbedingter Skepsis unverhofftes Staunen weckt aufgrund der Einsicht, dass Historisches unter dem Anspruch überzeitlicher Wahrheit erzählt wird.

Fiktion und Wahrheit in neutestamentlichen Geschichtserzählungen
Freiburg: Herder Verlag. 2021
254 Seiten
28,00 €
ISBN 978-3-451-39160-6

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