Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Markus Schiefer Ferrari: Exklusive Angebote

 

Seit der 2008 in Kraft getretenen UN-Behindertenrechtskonvention wird in vielen gesellschaftlich wie wissenschaftlich relevanten Bereichen die Forderung nach Inklusion verstärkt reflektiert. Ein noch andauernder Prozess der Bewusstseinsschärfung und Perspektivenerweiterung lässt sich auch für die Theologie und all ihre Praxisfelder konstatieren. Das Buch „Exklusive Angebote“ des Koblenzer Neutestamentlers Markus Schiefer Ferrari greift bisherige Erfahrungen und Anstöße den Umgang mit biblischen Texten betreffend auf und macht sie fruchtbar für das besonders sensible Themenfeld biblischer Heilungsgeschichten: Inwieweit führt die Rezeption von Heilungswundern als Hoffnungsgeschichten von einer „heilen Welt“, inwieweit führen auch biblische Erzählungen selbst in ihrer kulturprägenden Kraft über Jahrhunderte zu normativen Vorstellungen von „Heil“ und „Vollkommenheit“, die letztlich exklusiv sind und der Teilhabe aller entgegenstehen?

Nach einer Problematisierung des schwer zu definierenden Begriffs der Behinderung in Antike und Gegenwart sowie einer generellen Einführung in die Hermeneutik neutestamentlicher Wundererzählungen, die die Pluralität der Zugänge bereits nahelegt, stellt der Autor wichtige Anfragen und Ansätze von Theologen mit Behinderung vor (U. Bach, D. Wilhelm, S. Krahe, S. Betcher). Wenn klassische Interpretationen in einer Verschränkung der Zeiten Heilungserzählungen als Ab- und Vorbilder eines paradiesischen Urzustandes bzw. einer eschatologischen Neuschöpfung verstehen – sind behinderte Menschen dann nur „Mängelwesen“ statt Teil der geschöpflichen Vielfalt? Und sind Heilungen dann letztlich nicht Normalisierungsgeschichten, in denen der „Störfaktor“ behoben wird, eine notwendige Heilung der „normalen“ Umgebung aber nicht im Blick ist? Hier wird deutlich, dass diese die „Normallektüre“ irritierenden Perspektiven nicht nur ein „Partikularinteresse“ widerspiegeln, sondern von gesamtgesellschaftlicher Relevanz sind.

Ausführlich werden die Konsequenzen eines solchen grundsätzlichen Perspektivwechsels im Sinne einer dis/abilitykritischen Hermeneutik an Mk 2,1-12 und an Lk 14,1-24 durchgespielt. Die Erzählung von der Heilung des Gelähmten in Mk 2 hat mit ihrer Verquickung von Krankenheilung und Sündenvergebung in besonderer Weise zu problematischen Deutungen geführt, denen bei genauerer Analyse die ernüchternde Aufforderung zu größerer Zurückhaltung entgegenzusetzen ist. Für die Kombination aus Mahl-, Wunder- und Gleichniserzählung in Lk 14 deckt Schiefer Ferrari eine beeindruckende Reihe klassischer Deutungsstrategien auf, deren inhärente Differenzvorstellungen zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen (oft auch ungewollt) diskriminierend wirken. Vertiefende und ergänzende Einsichten auch über den Horizont neutestamentlicher Heilungserzählungen hinaus bieten die mehrdimensional angelegte Charakterisierung von Mefi-Boschet, dem gelähmten Enkel Sauls im 2. Samuelbuch, sowie eine Relecture von 1 Kor 11 mit einer Neubewertung des Zusammenhangs von Konflikten beim Herrenmahl mit den Krankheiten und Behinderungen einzelner Gemeindemitglieder.

Schiefer Ferrari ermutigt zur Erprobung einer Vielfalt von Lesarten und wägt bei allen Zugangsweisen – den „klassischen“ wie auch den dis/abilitykritischen – differenziert Chancen und Grenzen ab. Dezidiert ausgeschlossen werden sollen – gerade im Religionsunterricht, dem ein eigenes Kapitel gewidmet ist – lediglich solche methodischen Vorgehensweisen, die exkludierende Deutungen implizieren. Auf der Grundlage einer Theologie und Anthropologie, die das vielgestaltige Gebrochensein menschlicher Existenz integriert, und mit einer Ethik der Achtsamkeit betont er die Bruchstückhaftigkeit und Diversität unserer Verstehensmöglichkeiten. Ebenso sympathisch wie wahr ist dabei die bereits im Vorwort geäußerte Erkenntnis, dass es einfache Interpretationslösungen nicht gibt und verbleibende Spannungen und Ambivalenzen ein produktiver Stachel im Fleisch sein können.

Wer sich einer dis/abilitykritischen, „gestörten Lektüre“ einmal geöffnet hat, der kann biblische Heilungsgeschichten nicht mehr ohne „inklusive Lesebrille“ betrachten wie vorher. Er wird sich immer wieder neu und mit anderen gemeinsam auf die Suche nach Auslegungswegen machen, die für alle – ob „behindert“ oder „nichtbehindert“ – bereichernd sein können.

Biblische Heilungsgeschichten inklusiv gelesen
Ostfildern: Grünewald Verlag. 2017
140 Seiten
18,00 €
ISBN 978-3-451-34845-7

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